Zeit-Echo
Zum Programm
Die Zeitschrift ist keine bibliophile, sondern eine moralische Angelegenheit. - Nicht aufgenommen werden Werke irgendeiner Unterhaltungsabsicht, beschreibende Zeichnungen, Gedichte, Novellen und Betrachtungen, die allein der Erklärung und der Bildung dienen. Zur Veröffentlichung zugelassen sind nur fordernde Formulierungen von europäischer Gesinnung.
Organ
Eine Zeitschrift hat heute gar keinen lebendigen Sinn. Sie ist ein Konversationsmittel geworden, wie es vor hundert Jahren das Lexikon war. Zeitvertreib mit Betrachtung. Aber Geschriebenes, Gezeichnetes, Gedrucktes hat nur noch Wert, wenn seine Formulierung äußerste Notwendigkeit ist; wenn es so notwendig ist, daß es aufreizend wirkt durch den Mut zum Schlagwort; wenn seinem Urheber die Hingabe so wichtig ist, daß er auch vor der Einfachheit der Platitüde nicht zurückschreckt. Also das Gegenteil von Bibliophilie.
Eine Zeitschrift hat auch im besten Fall noch das Unglück, leicht bibliophilen Charakter zu tragen, immer noch nicht unmittelbar zu sein. Dies eingestenden. Aber gerade der Inhalt, der Wert, das Geistige, das Wort, das die Menschen vor die Entscheidung zur Unbedingtheit stellt, muß auf die unmittelbarste Art unter die Menschen gebracht werden. Das Ideal ist: das Flugblatt, der bibliothekarisch ganz wertlose Wisch, der einfach bedruckte Fetzen Papier, den man in die Tasche stopft. Oder man wirft ihn weg, und nur darauf kommt es an, daß man ihn nie wieder vergessen kann, wenn man einen Blick auf ihn warf: so tief hat er getroffen.
Eine Zeitschrift wird oft ein Organ genannt. Aber die einzige, die allereinzige Existenzberechtigung, die eine Zeitschrift heute noch haben kann, daß sie ein Organ ist. Ein wirkliches Organ, unsymbolisch gemeint. Ein Organ wie Kopf, Augen, Mund, Arme, Beine des Menschen, eine Forsetzung und Erweiterung der menschlichen Glieder bis zur lebendigen Berührung des anderen Menschen. Eine Zeitschrift ist nicht zur Erkenntnis da. Nicht zur Betrachtung, nicht zum Genuß. Sie ist auche keine Tribüne, an der Meinungen zur Diskussion gestellt werden. Sie hat Lebensrecht nur, wenn sie Bewegung, Griff und Darreichung dieser letzten, unbedingten und verzweifelten Menschen ist, die bereit sind, ihre Person völlig mit ihrer Sache zu identifizieren; die ihr Ziel des Geistes mit jedem Mittel ihres Körpers durchsetzen wollen; denen Reden, Handeln, Schreiben kein Unterschied bedeutet, sondern bloße verschiedene Äußerungsformen der menschlichen Liebestätigkeit. Und die zuletzt gedruckt werden, nicht um des Veröffentlichens willen, sondern nur weil sie so gleichzeitig zu mehr und verschiedeneren Menschen gelangen als allein durch die gesprochenen Worte im kleinen Zimmer.
Jeder weiß heute, daß in allen Ländern die Menschen nur schweigen, weil sie glauben, von den andern nicht gehört zu werden. Aber es gilt nur, ihnen ein Zeichen zu geben, daß das Klopfen ihres Herzens drüben unter den fernen, unbekannten Brüdern wahrgenommen wird, daß ihre Sprache wie ein Händedruck herüberkommt, daß vor dem Geiste die Entfernungen nichts sind: Und Grenzen, Drahtverhaue, Heere sind überholt.
Neuer Inhalt
Im Moment des Kriegsendes muß die geistige Welt dieser Erde bereit sein. Sprechen wir gar keine großen Worte aus; lassen wir die Schwüre, daß dieser Krieg der letzte sei. Das haben wir den kommenden Generationen als Geburtsgeschenk mitzugeben: die Verneinung, Verlachung, Verunmöglichung des Krieges. Aber dies kann erst eine Folge der ganzen Haltung und das Ziel im kommenden Zeitalter sein.
Für den Moment des Friedensschlusses geht es nicht um die Entschlüsse der Zukunft, sondern um eine ungeheure verödete, ausgesaugte, Schritt für Schritt grauenhaft isolierte Gegenwart. Wir dürfen unsere Aufgabe nicht aufschieben; nicht kleinkrämerisch warten, bis die Verhältnisse im Laufe der Zeiten wieder ins Menschlichere gerollt sind. Hier muß unser Wille stehen. Die Geistigen aller Länder müssen in diesem Moment sichtbar vor dem Auge der Völker sich die Hände reichen. Die Entschlüsse jedes Einzelnen sind längst gefaßt; sie sind einander nicht fremd. Die Schöpfungspläne der Einzelnen für die Zukunft der Welt stimmen alle in den Grundzügen so überein, daß man sagen muß, der geistige Weg für das Wollen der Besten ist schon vorgezeichnet. Es handelt sich um einfachste, reale Vereinigung der Wollenden.
Und nichts andres ist unsere kleine, harmlose, so bescheidene Zivilisationsaufgabe, als bis zu diesem Moment festzubleiben, nicht zu vergessen und nicht vergessen zu lassen. Einer Welt (ihre namenlose Leidenszerbröckelung ist heute nur noch der eigenen, schwerfällig weiterrollenden Trägheit des Willens verschuldet) die Beharrlichkeit, Kontinuierlichkeit und Zuverlässigkeit unseres Willens entgegenzustellen.
Dies alles ist: Den Moment des Kriegsendes geistig vorbereiten.
Aber das ist nicht zu machen, wenn der öffentliche Ausdruck der geistigen Trägheit des Menschen so schwindelhaft bleibt, wie wir ihn bisher als Leser gar nicht anders kennen.
Es ist nicht wahr, daß öffentliche, veröffentlichende Menschen in Wahrheit als letzten Schrei ihres Lebens, als verzweifeltste Mitteilungsnot vor der Katastrophe sich in solchen Vorstellungen bewegen:
Beethovens Skizzenbücher und Debussys Notenschrank.
Die Ellipse bei Greco.
Die Quellen zu Flauberts Bovary.
Sind die Werke von Hölderlins Wahnsinnszeit echte Dichtungen?
Die siebzehn Ströme der Sozialdemokratie.
Irische, altdeutsche und flämische Mystik.
Zur Psychologie Cagliostros.
Über den Begriff des Tanzes.
Der amerikanische Mensch.
Der italienische Mensch.
Der deutsche Mensch.
Der kanadische Mensch.
Der französische Mensch.
Jeanne d'Arc und Deutschland.
Dickens, ein Spiegel englischen Wesens.
Der Panslawismus bei Dostojewski.
Es ist nicht wahr, daß die Gesichterettung, die letzte Augenhilfe der verzweifelten Menschheit, die letzte Auslieferung an eine Seh-Mitteilung zur Wiederbesinnung auf unser Geistiges, es ist nicht wahr, daß die uns angehenden Gaben eines Malers, Holzschneiders, Zeichners so aussehen:
Komposition Nr. 13.
Landschaft mit Fahnenstange.
Akt I.
Akt II.
Akte III-X.
Nature morte (!! wo es schon nichts anderes mehr gibt).
Komposition Nr. 20.
Bildnis des Gefängnisdirektors, des Künstlers, des Generals z.D.
Dame mit Sonnenschirm.
Negerinnen.
Seinebrücke.
Komposition Nr.30.
Es ist nicht wahr, daß dies Menschen angeht.
Es ist nicht wahr.
Das alles ist darum Betrug. Zeit-, Kraft-, Raum-, Interesse- und Talentvergeudung, weil es in dumpfer Unbewußtheit den Versuch macht, heutiges Empfinden auszudrücken durch einen alten, abgelegten, erstorbenen, nicht mehr existierenden Inhalt (der vielleicht von Zeiten einmal wirklich so lebendig war, Menschen auf sich zur Besinnung zu bringen, der aber heute nur noch historisch-lexikalische Bildungssache ist). Ein Schein-Inhalt. Lebens- und Aktivitätsströme werden in Kadaver geleitet, um der Mitwelt das Schauspiel des galvanisierten Zuckens toter Glieder zu zeigen. Irrtum, Selbstmord, Betrug und Selbstbetrug!
Die Themen des Dichters, Schriftstellers, Publizisten - des öffentlichen Menschen- sind die, die uns Kraft geben, für die Zukunft feste zu stehen. Ungefähr so, und wem eines das Herz bedrängt, der soll es laut aussprechen:
Wir dürfen nie wieder vergessen.
Bund der Geistmenschen.
Neuschaffung der Welt aus dem Wissen in Wirklichkeit.
Die neue Wirklichkeit.
Aus der Nationalität zum Erdballmenschen.
Aufruf an die Verzweifelten.
Aufruf an die noch Lebenden.
Aufruf an die Geretteten.
Dreitausend Aufrufe an die Frauen der Erde.
Dreitausend Aufrufe an diese Überhälfte des Menschengeschlechts (in allen Graden).
Die Musiker der neunen Zeit komponieren die Tuba mirum des Jüngsten Gerichtes und das Gloria in excelsis des Menschen. Die Tänzer tanzen die Tänze "Gegen den Krieg", "Himmel und Hölle" und "Das Schweben des Geistmenschen".
Die Maler der Zukunft zeichnen Flugblätter, als Vorbilder zum Leben, so intensiv heutig brennend gedacht, wie die - auch ihrer Zeit nicht kunstgenießerisch, sondern lebendig vorbildlich und zeitungshaft wirkenden! - Holzschnitte Dürers und seiner Genossen aus einer damals neuen Religionsperiode, diese Apokalypsen und Marienleben, Erschütterungen und Verantwortlichmachungen für jeden Menschen, dem sie in die Hand fielen. Mit allen Fähigkeiten des neuen Auges hat der Maler heute wiederum Vorbilder in die Öffentlichkeit zu zeichnen. Vorbilder für die Aufpeitschung und die Aufrichtung, in denen kein Stück der Komposition aus Gefälligkeit und Formenspaß gemacht ist, sondern jede Form die Tatsache eines Dinges vertritt, das den Menschen wesentlich ist. Und es gibt hier das große, den Ateliers noch so unbekannte Mittel, das längst allen Völkern bekannt und vetraut ist und auf sie unendlich aktiver wirkt als die empfindungsreichste Spezialität der Kunstsalon-Maler: Dies ist die Malerei der Propaganda für und gegen. Erinnert euch an die Reklame. Prospekte der Geschäftshäuser mit den Zeichnungen "Vor dem Gebrauch - nach dem Gebrauch!" Was dort von Dilettanten entworfen, kindlich ausgeführt schon auf hunderttausend wirkte, wie wird es erst Menschen umschaffen im Antrieb wahrer Fähigkeiten, in der Kraft der Erfindung, schöpferisch.
Heute gilt das ungeheure Werk Giottos als Kunst. Aber zur Zeit, da es geschaffen wurde, war es genußlosestes, erhabenstes, verantwortungsvollstes Vorbild für eine Nachfolge von Heiligenleben des Franziskus unter allen Menschen, die Augen hatten zu sehen.
Und nun, Dichter und Maler, ihr habt euch zu stellen. Entweder ihr arbeitet für die Rente; dann wundert euch nicht, wenn ihr nächstens noch bei lebendigem Leibe nach Verwesung stinkt. Oder ihr arbeitet für die Menschheit, dann habt ihr Vorbilder zu entwerfen, nach denen Hunderttausende sehnend zielen werden, Vorbilder über euch hinaus, und ihr werdet euch eines Tages mit dem Musiker verbündet sehen, diesem bisher idiotischesten aller Selbstgenußparasiten, der euch seine hohe Messe bringt, unzweifelhaft mit dem ersten Hauptstück unzerbrechlichster Festigkeit: Et in terra pax; und der aus den neuen, von euch geformten Menschen seinen Chor aufstellt zur singenden Aufweckung der Gemeinschaft.
Europäische Gesellschaft
Wir leben noch.
Es ist kein Stolz, kein Ruhm, keine Ehre. Auch dies nicht, daß uns nichts anderes übrig bliebe. Sondern es ist unsere letzte Selbstverständlichkeit. Unsere erste Forderung.
Es gab die langen Zeiten, denen der wissende Gang zum Tode Märtyrertum war. Es kann eine Frage sein, ob Märtyrertum heute noch den Wert des Wirkens hat. Aber die Zusammenballung zum Leben, der unaufhörliche Widerstand gegen das Vergleiten in willenlosen Tod, der alltägliche Gang auf dem schmalsten Grat des Lebens, die einfache Bewahrung des Lebenbleibens, das ist das Märtyrertum dieser Zeit. Wir legen Zeugnis ab für das Leben. Und selbst wenn wir umstellt und niedergemacht werden: unser Wille wird weit in die Jahrhunderte greifen, unvergeßbar.
Unsere Brüder zum Leben sind da. In allen Ländern wissen wir sie. Niedergeschrien, mundtot, scheu gemacht von künstlich aufgeblähten Majoritäten, deren Massengeschrei schlau verstärkt wird durch die amtlichen Schallrohre der Informations-Schlagworte.
Unsere Brüder vom Leben sind da, man umstellt sie mit stacheldrähtigen Nationalwänden, man schlägt ihnen die Augen blind wie gemarteten Pferden, aber dennoch wissen sie von uns. Und sie sind jederzeit bereit, uns die Hand zu drücken.
Es kommt einzig darauf an, daß niemand von uns den Mund sinken läßt. Es kommt darauf an, jederziet eingedenk zu bleiben, wie viele der Geistesbrüder in allen Ländern da sind und aufeinander warten. Es kommt darauf an, manchen Versprengten Mut zu machen, Mut zum Widerstand, und ihnen zu zeigen, daß sie nicht allein sind.
Wir werden nicht warten, bis die Wissenden dieser Zeit alle tot sind und eine neue Generation erwachsen, die der Kriegsdinge von Kindheit auf gewohnt ist! Das Einzige, das Geringste und das Schwerste, was uns auferlegt sein muß, ist, aus diesem Kriege hervor, durch ihn hindurch den Menschen zu retten.
Es wird nicht sein, daß das Geistige - welches allein den Menschen formt unter allen Wesen der Erde - , daß die göttliche Würde des Menschen überkarrt werde von den Rädern der Kriegsmaschinen. Das wird nicht sein. Aber wir alle, die wir wissen, daß dies nicht sein wird, die wir wissen, daß unser Ziel ist, den Menschen für den Menschen zu bewahren, uns darf das bloße, heimliche Wissen nicht mehr genügen. Wir müssen es laut aussprechen!
Man kennt die Formel einer vorgegangenen Künstlerepoche, die Forderung l'art pour l'art, die Kunst für die Kunst.
Aber unser neuer Ruf für die kommende Zeit über alle Länder hinweg ist die Forderung: L'homme pour L'homme, der Mensch für den Menschen!
Die vergangenen Jahrhunderte sahen drei Epochen, in denen man versuchte, die Grenzen der Völker geistig zum Verschwinden zu bringen: Das Weltbürgertum, den Kosmopolitismus, den Internationalismus.
Das Weltbürgertum war eine Sache der persönlichen Einsicht. Der Versuch den Angehörigen derselben geistigen Klasse des fremden Landes als gleichberechtigt zu erkennen.
Der Kosmopolitismus war schon eine Sache der aktiven Bemühung. Der Versuch, sich im fremden Land durch Angehörigkeit zu einer bestimmten Klasse als gleichberechtigt erkennen zu lassen.
Der Internationalismus war die höhere Einheit seiner beiden Vorgänger. Er war endlich die bloße Technik, Weltbürger und Kosmopolit zu sein.
Aber diese drei grenzüberschreitenden Zustände sind jeder doch nur Konstatierungen einer subjektiven Einzelsituation. Sie verpflichten zu nichts. Sie sind Mitteilungen aber keine Forderungen. Wie innerlich leer, relativ bedingt, ungeistig materiell und nicht bindend die letzte, nächste Phase, der Internationalismus, ist, sieht man aus der bekannten Tatsache, daß gerade die nationalistischen Führer aller Länder miteinander befreundet, verwandt, Ehrenregimentskameraden, also mit einem Wort so international verbunden sind, wie sonst nur das Kapital. Wie müssen die unter Tränen kichern! Der Internationalismus hat uns nicht geholfen, nicht einmal zur Aufrechterhaltung des Internationalismus!
Dennoch ist das erste, Dringendste die Verbindung der Menschen eines Volkes mit denen des andern, unabhängig von den Grenzen und der Aktualität des Krieges. Und welche ist die Forderung, wenn selbst der Internationalismus versagt hat?
Die Forderung der neuen Zeit heißt: Erdballgesinnung! Es handelt sich um nichts anderes, als daß im Moment des Kriegsendes die Übervölkischen, die Panhumanisten, die Menschgesinnten auf der Erde zusammenstehen. Die Geistigen. Hier aber kommt es auf die Reinheit an. Diese Armee wird niemals durch die bloße Zahl siegen - weder durch die Wucht einer Übermasse, noch durch das Mysterioso der Minorität -, sie wird allein durch die ewige Sprengwirkung der unzweideutigen, öffentlichen Gesinnung der Menschen helfen können.
Wer ist unser nächster Freund? Der wahrhaft Geistige. Der Mensch, welcher ohne Veranlassung durch natürliche Familieninteressen, Geburtsbande, Geschäftsangelegenheiten: nur durch seine Überzeugung, durch seinen Entschluß und seine Entscheidung die Menschen der andern Länder für seine Brüder hält.
Mit ihm im Bunde, mit dem Reinen, werden wir die Gesinnung des neuen Zeitalters nach dem Kriege heraufführen.
Zu welcher Zeit, wenn nicht jetzt, hatte das Wort Europa seinen tiefsten, aufwühlend nachhallendsten Klang! Niemals schwangen so hellste Erdparadiesbilder in den Wünschen der Menschen, die an Europa dachten. Vielleicht war erst heute, nach der Krisis, Europa möglich. Vielleicht schreitet erst heute - in allzugroßem Inkognito noch - der Europäer vor uns her.
Wir Europäer wissen, mehr als andere, daß die Forderung "Europa" die geringste von allen ist. Wir wissen, daß Europäismus ein Zustand ist, der nur die allererste Voraussetzung und selbstverständlich ist für ein Bewußtsein von der Rundung des Erdballs, auf dem überall fühlende, denkende, sprechende Menschen leben.
Und ist das etwa neu? Ist das etwa nur ein weltgeschichtliches Aperçu? Ist das ein Trick von Modeköpfen? - (Wie man es in der Idiotenpresse lesen kann!)
Nein, es ist nur so unendlich selbstverständlich! Es kommt nicht darauf an, daß diese drängendste aller geistigen Notwendigkeiten auch Ahnen habe. Aber käme es nur auf Stammbaum an? O, wir Europäer haben auch das, eine Vorläuferschaft der Edelsten unter den Aktiven zweier Jahrhunderte. Der Schweizer Muralt, der um 1700 das Denken der Schweiz mit seinen Briefen aus England europäisierte. Rousseau, der zwei Jahrhundertdrittel später Europa selbst zur Besinnung rief. Der deutsche Anacharsis Cloots, der inmitten der französischen Revolution den europäischen Gottesstaat durch Frankreich verwirklichen wollte. Schweigen wir von den großen ringenden Denkern des neunzehnten Jahrhunderts, die noch in aller Gedächtnis sind. Nur er noch sei erwähnt, der selbst den Versuch anstellte, die europäische Idee in vollster Realität zu verwirklichen: Mazzini, unter dessen Auge von Genf aus das Junge Italien, das Junge Deutschland, das Junge Frankreich entstand, und 1834 das Junge Europa. Mißglückte Handstreiche waren das, mißglückte Welten, zu früh geborene Ideenstaaten, aber von denen, trotz der endlichen Verjournalisierung eines kleinen Haufens der Mitläufer, ungeheure Energiekräfte zu den Bewegungen der vierziger Jahre strahlten. Es war zu früh. Auch der sozialistische Europäismus Mazzinis verlief zuletzt in einen modernen Nationalismus.
Aber heute ist es nicht mehr zu früh. Das Erfühlen Europas, das liebende Zusammenhangswissen mit diesem zerhungerten, zerhackten, zerbluteten Erdland ist heute bis in die starrsten Bürgerherzen gedrungen. Nichts ist schlimmer, als daß es erst einer überirdisch-unterirdischen Riesenfleischermaschine berdurfte, um die Herzen der Menschen für die europäische Idee zu erschüttern. Doch obwohl der letzte Antrieb Abscheu vor dieser Zeit ist: Wert und heilig ist uns, daß Europa sich durchsetzte.
Der letzte, unabweisbare Augenblick ist da, nichts brennt stärker auf unserer Haut. Wir alle sind bereit. Alle sind bereit. Trenenn wir uns nicht mehr. Im Wissen, daß wir nach der höchsten Todesgefahr da sind für
Das Junge Europa!
Mitmensch
Und da nun endlich überall in der Welt vom Geist und von den Geistigen die Rede ist, so wollen wir uns gewiß nicht bei dem bloßen Worte beruhigen. Es geschieht noch nichts für den Geist, wenn ein Musiker Sinfonien vor Musikfreunden klingen läßt, die nach seiner Hoffnung das Fühlen der Menschen umheben; wenn ein Maler Bilder vor Eingeweihten ausstellt, die nach seiner Überzeugung einen neune Begriff vom Zusammenhalt der Dinge geben; wenn ein Dichter Gesellschaftsromane schreibt, die seiner Meinung nach aus demokratischen Ideen kommen; wenn ein Essayist alle diese Fragen zur Erörterung stellt. Es geschieht nichts. Es wird nur viel schlimmer. Denn eine Schicht von Menschen, deren Tatneigung ohnehin nicht groß ist, glaubt, schon aus dem bloßen Mitmachen dieser Werke etwas Geistiges getan zu haben.
Es ist aber heute nicht mehr zweifelhaft, was eine geistige Tat ist. Diese Frage kann gar nicht mehr ehrlich gestellt werden. Sie ist uns allein durch die Tat eines Volkes in ungeheuerster Weise beantwortet worden. Vor unsern Augen.
Was dort geschah, ist kein "Ereignis". Nicht ein Vorfall, der durch einen neueren Vorfall, durch ein anderes Ereignis verdrängt werden könnte. Es ist eine wirkliche Tat. Eine Tat ohne Symbolik, ohne Nebenbedeutung. Tat, vorbereitet, gezeugt und geschaffen aus der tiefsten, langschwingendsten, intensivsten Erhebung für den Geist. Und darum nicht mehr aus der Welt zu räumen. Kein Mißerfolg, kein Verrat, kein Rückschlag mehr, so Bitterstes auch noch eintreffen mag, kann die größte Entscheidung, die ein Jahrhundert gesehen hat, wieder ungeschehen machen. Die Entscheidung gegen die Macht, die Gewalt, die Unterdrückung: zum Geist, zur Freiheit und zum Menschenrecht nach dem Plane der Idee.
Daß dies alles nicht Bluff, nicht Schiebung oder äußerlich auferlegte Beeinflussung war, ersieht man aus der unglaublich vielfachen und fruchtbar um sich wirkenden Lebendigkeit des neuen Organismus: Von dem, was im Ostlande geschah, erwartet jeder etwas. Der Politiker erwartet eine Beeinflussung der Weltteile, der Marxist erwartet einen Aufschwung des Klassenkampfes, der Militär erwartet eine Veränderung der Kriegslage, der Pazifist erwartet Frieden, der Agent erwartet neuen Zwischenhandel, der Sozialist erwartet neue Gemeinschaft, der Reporter erwartet neue Sensationen, der Genosse der Finsternis erwartet sehr Böses für sich.
Jeder, der in den Handlungen der Menschen nicht nur Nützliches, sondern vor allem Menschliches sieht, wird wild vor der Unbescheidenheit, vor der aufdringlichen Unverschämtheit höchsten Grades, wenn er sieht, wie Unbeteiligte mühelos der russischen Revolution lyrisch oder wohlwollend auf die Schulter klopfen. Es ist nicht die Zeit, weise Worte über die Gemeinschaftstat eines Volkes zu sagen; es ist nicht die Zeit, Dynastenhistorie zu erzählen, es ist nicht die Zeit, den Leser oder den Hörer mit der Feststellung von Erfolgen zu unterhalten, zu denen er nichts selbst getan und gegeben hat!
Denn da drüben geschah nichts unerwartet Plötzliches. Aber auch nichts von dem Narrenchaos, das bequeme hämische Propheten ansagten. Um die neue, höhere Menschheitsordnung im Osten hat das edelste Blut dieses Landes mehr als ein halbes Jahrhundert lang gekämpft. Durch Jahre hindurch haben Hunderttausende ihr Haus, ihre Familie, ihr Vermögen, ihre Bequemlichkeit, ihre Genüsse, ihre Sicherheit, ihr Leben für nichts erachtet, um der Hingabe willen an ein Gebild aus dem Geiste.
Diese wahrhaften Freiwilligen, die ihr Gesetz diktiert fanden von der Bruderliebe, schufen an der Verwirklichung einer Idee. Diese wahrhaft Tapferen waren nicht gedeckt durch Befehl und Massenzwang, sondern jeder wußte sich in jedem Augenblick des Lebens ungeschützt, preisgegeben. Sie waren gestützt nur auf das Vertrauen zu ihrem Gewissen, auf ihren festen Willen zur Unbedingtheit, auf ihren Glauben an die dereinstige Leibwerdung ihrer Idee, auf ihren Glauben an die neue Auferstehung des Geistes auf erden. Sie waren gestützt auf ihren Glauben an die Heiligkeit des Mitmenschen.
Derweile war in den anderen Ländern der Erde Entmutigung, Skepsis, Erörterung und Erwerb von bloßen Methoden, denen der Antrieb des Geistes längst in Vergessenheit geraten war.
Aber der Puls dieses neuen Leibes der Menschheit aus dem Geiste klopft so laut, daß ihn die ganze Erde hört. Einer, der einst Umstürzler hieß, jetzt zur Hilfe am Aufbau seines Landes gebeten: Krapotkin, zeigt in seinem Buch Gegenseitige Hilfe (Abschnitt Gegenseitige Hilfe im Mittelalter ), wie im zwölften Jahrhundert eine ungeheure Freiheitswelle über Europa stürmte; die Schöpfung von Bünden, Gesellschaften, Gilden, freien Städten, Kommunen.
Diese Geistwanderung über die Völker war jahrhundertelang vergessen, und nur die Dome und die großen Bauten der Städte sind uns als erstarrte Zeichen der Geistesglut zur Gemeinschaft geblieben.
Es kann Zeiten geben, in denen die Besinnung des Menschen zum Geistigen schläft; unser Wesentlichstes, unser Brudertum und unsere Gemeinschaft kann verfressen und vergessen werden.
Aber der Geist kann nicht vernichtet werden. Immer wieder richtet er sich weithin sichtbar auf in Einzelnen und in kleinen Gruppen, den Frühen, den inspirierten Eingeweihten der menschlichen Freiheit, jenen die nie Vergleiche mit der Macht des Ungeistes schlossen und die, märtyrerhaft geschmäht und verfolgt, noch im qualvollsten Tode verkündeten, daß sie Söhne der Idee waren.
Es gibt nichts, das heute allen Menschen der Erde, allen, so klargeworden ist, als die Idee der Freiheit, der Bruderschaft und des Mitmenschentums. Dieser Erde ist es so unglaublich schlecht gegangen, sie hat so nichts mehr zu verlieren, sie ist so verschwistert mit der Verzweiflung, daß endlich auch der Träge und Böswillige als Heilung erkennt, was früher nur erhabene Seelen, unter aller Gefährdung ihrer Sicherheit, in eine stählern feindliche Welt zu künden wagten.
Wen schaudert der Rückblick nicht? Zu sehen, daß durch Jahrhunderte unsere Brüder gehetzt, gemartet und als tolle Störer der Gesellschaft ums Leben gebracht wurden, Menschen, deren Gemeinschaftspläne (um nur einen zu nennen: Thomas Morus) wir längst als selbstverständlichste Voraussetzung nehmen, während das Chaos ihrer Zeit uns als irrsinnig erscheint.
Auf einem neuen Erdreich werden diesen die Heldenmale gerichtet werden, und das Bruderhaus der Menschheit wird eine Gedenkschrift haben: "Zum Gedächtnis der Wiedertäufer, hingerichtet für ihren Kampf um eine bewußte Menschengemeinschaft aus dem Geiste."-
Es ist nicht Zeit, diese Revolution im Osten zu betrachten. Betrachtet nur erst euch selber, ihr geübten Betrachter! Betrachtet eure Voreltern, Eltern, Verwandten, Frauen, Bräute, Freunde - ob sie so gläubig mutvoll hingegebene Kameraden einer Idee waren, wie die dort drüben lange Jahre, erbittert und langmütig weiten Herzens! Betrachtet euch, ob ihr, ohne Rentabilitätsversprechen, ob ihr geistig das gewagt hättet! Es ist nicht mehr Zeit, zu betrachten.
Es ist Zeit, vor dieser Neuordnung des Ungeordneten sich auf sein Gewissen zu besinnen. Auf die eigenen sittlichen Fähigkeiten. Auf den eigenen Trieb zur unbedingten Hingabe an das Geistige. Auf die eigene Kraft zur Entfaltung des Willens für die Idee vom Mitmenschen. Für die Idee allein? Für die Tatsache vom Mitmenschen! Und welche Tatsache kennt die Welt heute besser, als daß jeder Mensch das Recht auf Existenz, Platz, Leben hat, nicht anders als du selbst. So weit sind wir endlich. Selbst in den Regierungshäusern des Erdballs.
Es ist Zeit, das Wort vom Mitmenschen laut auszusprechen. Aber wer es spricht, der rechne erst ganz mit sich ab, der sei gleichgültig bereit, alles zu verlieren, erst dann wird sein Wort eine Schwingung und seine Idee der Gewinn eines Wagnisses.
Wir alle, zu unsern Lebzeiten, werden noch das Ungeheuerste sehen. Die höchste Not der Menschheit wird ihre Gegenwaage haben in der höchsten Verwirklichung von Paradiesträumen. Niemand von uns braucht mehr entmutigt zu sein.
Es gibt für den Menschen keine innere Leere mehr. Jeder hat sich mit seinem Gewissen unter das Auge der Ewigkeit zu stellen und die Sekunde jedes Lebensmoments hinzugeben an die Verwirklichung der Mitmenschenfreiheit.
Diese Idee ist wahrhaft und wirklich schon so stark in die Welt gedrungen, daß keine Kriegsmaschine ihr mehr ein tatsächlicher Gegner ist. Immer, wenn die Welt zwischen Dunkel und Licht schwebt, gibt es noch Wirrnis, und die Gewalt dringt im letzten Zucken vor, aber sieglos, nur im Todeskampf. Es gibt keine Siege mehr. Vor dem Geist dieser neuen Menschheit werden die Heere zersplittern.
Die Weißen Blätter
(Verlag Rascher & Cie., Zürich und Leipzig).
In der Juninummer spricht der Herausgeber, René Schickele, ganz personenhaft, doch menschlich selbstverständlich, von Friedrich Adler. Die Bemerkung - sie kleidet sich bunter ein als sie wohl gemeint ist - heisst:
Die Zauberflöte
"Die grösste sittliche Erhebung seit Kriegsausbruch durch Gesprochenes oder Gedrucktes verdanke ich der Rede, die Fritz Adler vor seinen Richtern in Wien gehalten hat. Dieser schlichte Mensch, der den Mut fand, sein eigener Held zu sein, steht am Anfang der neuen Zeit. Er sprach an seinem offenen Grab stark und gerade und wie übergossen von innerster Heiterkeit. Er war liebenswürdig zu seinen Richtern, er salutierte den Gegner. Er zeigte in jedem das Merkmal großer Naturen: den fanatischen Willen zur ganzen Gerechtigkeit - die einzige Art Fanatismus, die weder dumm, noch hysterisch ist. Auf solcher Höhe steht seine Gestelt, in gebeugter Haltung, ein wenig linkisch, mit einem gütigen Lächeln, wie ein Denkmal. In der Wiener "Zeit" las ich:
"Unmittelbar vor der Urteilsverkündung spielte sich eine kleine, aber bemerkenswerte Episode ab. Der Gerichtshof hatte eben seine Beratung beendet und schickte sich an, wieder den Verhandlungssaal zu betreten, um das Urteil zu verkünden. In diesem Augenblick erhebt sich der Angeklagte von seiner Bank, richtet sich hoch auf und winkt lebhaft und freudig lächelnd nach dem Hintergrund des Auditoriums. Dort, etwa in der zehnten Reihe, sitzt der Vater des Angeklagten, der Abg. Dr. Viktor Adler. Er bemerkt die Bewegung des Sohnes. Sofort erhebt er sich und erwidert kopfnickend und winkend diesen Gruß. Zwei Sekunden später beginnt der Präsident mit der Kundmachung des Erkenntnisses, durch das Friedrich Adler zum Tode verurteilt wird." Daran mußte ich am Abend in der "Zauberflöte" plötzlich denken, als Tamino und Pamina ihren Rundgang durch die Feuer- und Wasserprobe machten. In der über dem Abgrund schwebenden Heiterkeit dieser Musik spiegelte sich mir Fritz Adlers Gesicht.
Neue Wege
Der Krieg hat Gustav Landauer menschlich grosse Zeitschrift "Socialist" beseitigt. (Dies ging, ausser den Zwischenfällen des Schweigenmüssens wohl nicht ohne starke Enttäuschungen, Überraschungen, Lehren ab. Manche, die jahrelang im "Socialist" veröffentlichen durften, haben seit Beginn des Krieges ihren wilden Literatur-Nationalismus entdeckt; andere, die theoretisch abgelehnt wurden, haben sich als reine Menschen und als Zukünftige enthüllt. Im ganzen das Bild wie in jeder großen Krise einer Bewegung: Die Künstlerischen und Geschätzten waren Verräter; die Agitatorischen und Mißachteten waren Menschen!).
Seitdem ist, wie mir scheint, nur ein einziges Blatt da, das unzertreten vom Polizeistiefel, den wahren Aufgaben des menschlichen Geistes dient. Das sind die "Neuen Wege", eine Monatsschrift, die im zwölften Jahrgang (bei R.G. Zbinden in Basel, Rheinsprung 5) erscheint. Ein Mann hat mit den elf starken Jahresbänden dieser Zeitschrift einen Block in die Welt gesetzt, um den sie nicht mit Lächeln, Schielen oder Vergewaltigung wird herum kommen. Dieser Mann heißt Leonhard Ragaz; wer sich nicht um Personales kümmert, sondern darum, was er aus der Lektüre der Leistung sieht, erfährt, daß Ragaz früher Pfarrer war und heute Professor der Theologie an der Universität Zürich ist.
Die Zeitschrift begann vor zwölf Jahren als Organ der "Religiös-Sozialen" (greuliches Wort), und sie scheint zuerst ein Tummelplatz jener hochmütigen Pfarrers- und Theologenbande gewesen zu sein, die jede populäre Maske anlegen, um das Volk wieder für patentierte Kirchenkonfessionen zu gewinnen, und die sofort ihr wahres Beamtengesicht zeigen, wenn es gilt, ernstlich die eigene, irgendwie gesagte Überzeugung zu verwirklichen.
(Übrig blieb aus dieser Zeit nur eine allzugroße Güte im Veröffentlichen aufgeblasen dilettantischer Gedichte, deren Verse sich nicht mit ihrer Rede identifizieren, also nicht körperlich werden, sondern nur salbungsvolle Worte sagen.) Aber je deutlicher die moralische Krise der Welt wurde, um so mehr schieden die falschen Freunde, die Halben, die Müden aus. Mit dem Weltkrieg wird gerechnet. Zu Neujahr 1913 schreibt Ragaz:
"Wir stehen an einem Ende! Das war einer der Eindrücke, den wir von dem Friedenskongreß in Basel empfingen. Hier kam also dieser Eindruck vom politischen und sozialen Leben her. Zu Ende geht jene Politik, die, umgeben vom Glanz nationaler, ja sogar religiöser Ideale, tief in tierisches Wesen hineinführte, die einen Haufen von Berufspolitikern Völkerschicksale machen ließ - menschlich angesehen! - ohne daß davon die Völker etwas Rechtes erfuhren, oder dazu etwas Ernsthaftes zu sagen hatten. Diese Politik ist sichtlich in Verwirrung geraten. Nicht nur ist sie durch den Gang der Weltereignisse beschämt worden, noch mehr Eindruck muß es auf sie machen, daß die Völker anfangen, sich gegen sie aufzulehnen. Der Protest des internationalen Sozialismus war nur der Ausdruck einer in der heutigen Welt weit verbreiteten Empfindung."
(Seither weiß Ragaz, daß Leute, die einer weitverbreiteten Empfindung Ausdruck geben, sich im Ernstfalle um ihren Protest nicht mehr kümmern, sondern sofort zum Ausdruck einer andern weit verbreiteten Empfindung greifen - je nach der Verbreitung der aktuellen Empfindung.)
"Das Proletariat, indem es durch seine Bildungsarbeit die bürgerliche Welt vollends besiegen will, kommt zuletzt bei dieser an, ja, es kommt sogar erst dann dort an, wenn jene schon wieder weiter ist. - Ich betone stark, daß es, heißt: Gesinnung, nicht Wissenschaft. Das war der Grundfehler der bisherigen Arbeit, daß sie, im Schlepptau des allgemein-bürgerlichen Ideals, die Arbeiterbildung vor allem in einer Mitteilung von Wissen suchte.
Dieser Fehler aber hing mit dem andern zusammen, daß der Sozialismus überhaupt viel zu sehr als eine Wissenschaft verstanden wurde. Gewiß ist er mit einem Wissen verbunden. Das Wissen soll ihm dienen, ihm den Weg bahnen zu helfen, ihm Werkzeug und Waffe sein, aber in erster Linie und letzten Endes ist der Sozialismus, wie schon gesagt worden ist, ein Ziel des Willens, ein sittliches Ideal und ein sittlicher Galube: er ist der Glaube an Recht und Notwendigkeit einer wahrhaft menschlichen und sittlichen Ordnung, die an Stelle der Knechtung und Ausbeutung des Menschen die gegenseitige Hilfe im Kampf um ein volles, echtes, freies Menschentum setzt, es ist der Wille, dieses Ziel zu verwirklichen und es ist die Gesinnung, die diesem Ziel entspricht und alles Tun eines rechten Sozialisten regelt. -
Wir kehren also die sonst übliche Ordnung um: zuerst die Gesinnung, dann die Wissenschaft. Das ist von großer Bedeutung. Zweielerlei folgt daraus. Erstens: wir werden vom Dogmatismus erlöst, der unsere ganze Bewegung verheert. Denn wenn man den Sozialismus vor allem in einer Wissenschaft erblickt, dann legt man sich leicht auf eine bestimmte Wissenschaft fest. Man erhebt bestimmte Sätze zu Dogmen, man bekommt eben eine Orthodoxie, eine Kirche des Sozialismus mit allem Zubehör, man schließt sich von dem Strom der geistigen Entwicklung ab und vergeht sich in innerem Krieg gegen die Ketzer.
Natürlich: Wenn das die Wahrheit des Sozialismus ist, eine bestimmte Wissenschaft, dann wäre ja man verloren, falls diese Wissenschaft nichts mehr gälte, und muß sie verteidigen bis aufs Blut. Anders aber, wenn der Sozialismus vor allem eine Gesinnung ist, ein Willensziel, ein sittlicher Glaube. Dann ist man seiner auf alle Fälle gewiß, mag die Wissenschaft noch so sehr hin und her schwanken. Er ist so gewiß, wie es gewiß ist, daß der Mensch ist und als Mensch nicht aufhören kann, nach einer Verwirklichung vollen Menschentums zu streben: er ist so gewiß als der Glaube an das Gute ist, nicht gewisser, aber ebenso gewiß, das heißt: gerade gewiß genug für den strebenden und kämpfenden Menschen." (Februar 1916. Und als Vortrag vor Arbeitern gehalten. Wo hat man zu denen schon so gesprochen?) -
Der kühne und unbekümmerte Mitherausgeber der Zeitschrift, J. Matthieu, geht auf dieses selbe Ziel mit den Denkwaffen des antiautoritären Sozialismus zu. Verwirklichung der zwangfreien, menschlichsten Gemeinschaft auf Erden nach den Forderungen des Menschen, der sich zum Unbedingten bekennt.
Die Worte dieser Männer und ihrer Freunde und Schüler (E. Brunner, ausgezeichnet durch Umfang und Ernst) stehen alle da als völlig selbstverständlich; sie sind undoktrinär, und gar nicht von der Farbe des eiligen Neulings. Hinter jedem Satze der Matthieu und Ragaz sieht man tiefe Perspektiven von Wissen, das diese Männer nur ganz haben aufgehen lassen in Reinheit und Ziel.