Die Grundbasis dieser Rubiner-Website ist meine Dissertation Ideologie und Utopie im literarischen Werk Ludwig Rubiners, die ich 1995 an der Universität Florenz vorgelegt habe, die in Italienisch abgefaßt und von mir ins Deutsche übersetzt worden ist.

Es handelt sich um eine Art WORK IN PROGRESS Projekt und wird ständig mit neuen Informationen und Zusammenhängen erweitert. Ich bin immer auf der Suche nach neuem Material, das mir in meiner Forschung über Ludwig Rubiner und seine Kontakte zu den Intellektuellen seiner Zeit weiterhelfen kann.

Der literarische Nachlass von Rubiner besteht aus Autographen - Briefen, Postkarten - (vgl. ARCHIV BIBLIOGRAPHIA JUDAICA. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Band 18, S. 415) und seinem Pass (Akademie der Künste, Berlin). Der größte Teil des Nachlasses besteht aus den Briefen an Ferruccio Busoni.

Falls Sie diese Seiten gelesen haben, sich für das Thema interessieren und Denkanstöße bekommen haben, schreiben Sie mir gerne eine E-Mail und teilen Sie mir Ihre Meinung mit. Ich betrachte meine Doktorarbeit als geistiges und kulturelles Allgemeingut. Wer sich an das vorliegende Material anknüpfen will (mit Zitaten, Vertiefungen), kann dadurch die Kreativität fördern.

Über Plagiate sollte man sich nicht ärgern. Sie sind wahrscheinlich die aufrichtigsten aller Komplimente. (Theodor Fontane)

I don't care that they stole my idea. I care that they don't have any of their own. (Nikola Tesla)

Die Wahrheit finden wollen ist Verdienst, wenn man auch auf dem Wege irrt. (G. Ch. Lichtenberg)

Eng ist, was ist; was sein kann, unermesslich. (A. de Lamartine)

Das Forschen ist an sich schon beinah die Entdeckung. (Klaus Mann - Der Wendepunkt)

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

Barbara Barnini




Queste informazioni fanno parte della mia tesi di laurea Ideologia e utopia nell'opera letteraria di Ludwig Rubiner, discussa all'università di Firenze nel 1995.

Perché il titolo Ideologia e utopia nell'opera letteraria di Ludwig Rubiner?

Per sottolineare la forte componente utopica contenuta nel contenuto ideologico. Rubiner era un visionario.

La tesi è redatta in italiano ed è stata tradotta in tedesco.

Si tratta di un progetto WORK IN PROGRESS che si arricchisce costantemente di nuove informazioni e collegamenti. Sono sempre in cerca di materiale che mi possa aiutare ad approfondire la mia ricerca su Ludwig Rubiner e i contatti con gli intellettuali del suo tempo.

Il lascito letterario dell'autore è composto da autografi - lettere, cartoline - (cfr. ARCHIV BIBLIOGRAPHIA JUDAICA. Lessico degli autori ebreo-tedeschi, Volume 18, p. 415) e dal suo passaporto (Akademie der Künste, Berlino). La parte più cospicua del lascito è composta dalle lettere a Ferruccio Busoni.

Se, dopo aver letto queste pagine, siete interessati all'argomento e ne avete potuto ricavare degli spunti di riflessione, scrivetemi pure un'e-mail per dirmi cosa ne pensate. Considero la mia tesi di laurea come bene culturale di pubblico dominio. Chi si vuole riallacciare al materiale da me raccolto (con citazioni, approfondimenti), incrementa la creatività.

Non ce la dovremmo prendere per i plagi. Sono probabilmente i complimenti più sinceri. (Theodor Fontane). (la traduzione è mia)

Ringrazio per l'attenzione.

Barbara Barnini




INDICE DELLA TESI - INHALTSVERZEICHNIS MEINER DISSERTATION -

PREMESSA

VORWORT

Nota biografica

Biographie


LUDWIG RUBINER E IL SUO TEMPO: l’attività critico-letteraria


LUDWIG RUBINER UND SEINE ZEIT: seine Tätigkeit als Kritiker und Literat


RUBINER E LA TRADIZIONE ESPRESSIONISTA: l'attivismo politico e il ruolo di poeta politico


RUBINER UND DIE EXPRESSIONISTISCHE ZEIT: der politische Aktivismus und die Rolle des politischen Dichters


L’esperienza giornalistica nella direzione di „Zeit-Echo“


Die journalistische Erfahrung in der Leitung des „Zeit-Echo“


L’ELEMENTO LUDICO-GROTTESCO NELL’ESORDIO LETTERARIO:

Gli opali indiani: un’avventura fra l’esotico e il criminale


I sonetti criminali


La rivolta: pantomima per il cinema


DER SPIELERISCH-GROTESKE ASPEKT IM LITERARISCHEN ANFANG:

Die indischen Opale: ein Abenteuer zwischen Exotismus und Kriminalität


Die Kriminalsonette


Der Aufstand: Pantomime für das Kino


IL SOCIALISMO IDEALE:

La luce divina: un itinerario cosmico-attivistico


La concezione umanocentrica nel saggio L'uomo al centro


Le antologie Camerati dell'umanità. Poesie per la rivoluzione universale e La comunità. Documenti per la svolta universale dello spirito: un appello alla solidarietà umana


I non violenti: un manifesto della non violenza


DER IDEALE SOZIALISMUS:

Das himmlische Licht: eine kosmisch-aktivistische Reise


Die mensch-zentrierte Anschauung im Essay Der Mensch in der Mitte


Die Anthologien Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution und Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende: ein Aufruf zur menschlichen Solidarität


Die Gewaltlosen: ein Manifest der Gewaltlosigkeit


Rubiner traduttore

Rubiner als Übersetzer

CONCLUSIONI

NACHWORT

Note

Fußnoten

Bibliografia

Bibliographie




VORWORT

Die folgende Arbeit analysiert das Werk Ludwig Rubiners und ordnet es - wegen seines stark politischen und sozialen Einsatzes für die Umgestaltung der Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland - in die aktivistische Nebenströmung der expressionistischen Bewegung ein. Zentralpunkt dieser eher intellektuell betonten Richtung sind die Ideen von Gemeinschaft, Geist, Mitmenschentum, Menschlichkeitsgefühl, Handeln in der Gegenwart und im sozialen Interesse. Der ethische Anspruch tritt in den Vordergrund und Rubiners Einstellung zur Politik ist eine Verallgemeinerung von verschiedenen anarchistischen, pazifistischen, sozialistischen, religiös-humanitären und freiheitlich-demokratischen Elementen, nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution (1917) und der deutschen Novemberrevolution (1918).

Seine literarischen Anfänge lagen ganz auf dem Gebiet der Kulturkritik: in seinen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Rezensionen nahm er sowohl das deutsche wie das ausländische Kulturleben seiner Zeit unter die Lupe. 1912 wurde Rubiner zum Sozialkritiker und, mit seiner programmatischen Schrift Der Dichter greift in die Politik, trat er an die Öffentlichkeit, um die sozial wirkende Rolle des Dichters zu verkünden.

Im Jahre 1911 und 1914 begann er die feste Mitarbeit an der Aktion und an den Weißen Blättern, die zu den wichtigsten Zeitschriften des literarischen Expressionismus zählten. Er verschärfte damit seinen gesellschaftskritischen und politischen Ton und baute gleichzeitig sein gesellschaftliches Engagement aus. Das ästhetisch-literarische Programm beider Zeitschriften forderte, dass die Kunst im Dienste der Erneuerung der Menschheit zu stehen hat.

Das Spektrum seiner späteren literarischen Arbeiten reichte von einem Unterhaltungsroman (Die indischen Opale 1910) über ironisch-satirische Lyrik (Kriminalsonette 1913) und die Pantomime für das Kino (Der Aufstand 1914) bis zu seiner lyrischen (Das himmlische Licht 1916), essayistischen (Der Mensch in der Mitte 1917), verlegerischen (die Anthologien Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution und Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende 1919) und dramatischen Produktion (Die Gewaltlosen 1919).

Die Vielseitigkeit des Autors erschöpfte sich nicht nur in seinen eigenen Schriften, sondern er war auch als Übersetzer aus dem Französischen (Romane und Erzählungen Voltaires) und aus dem Russischen (Tolstojs Tagebuch) tätig und wirkte als Herausgeber seiner Zeitschrift Zeit-Echo (1917), die im Schweizer Exil als Bollwerk des Antimilitarismus galt.

Der ideologisch-utopische Gehalt Rubiners Werke, mit ihrer stark emphatischen und resonanten Metaphorik, und mit ihrer symbolischen und auf wesentliche Aussagen reduzierten Bildsprache, wird allgemein als Grundlage für das Verständnis dieser Texte anerkannt.




BIOGRAPHIE

Ludwig Rubiner (1) stammte aus einer ostjüdischen Familie aus Galizien (2). Der Vater Wilhelm zog nach Berlin, wo Ludwig am 12. Juni 1881 zur Welt kam. Die Kritiker sind sich über das Geburtsdatum nicht einig. Paul Raabe nennt den 12. Juli 1882 und den 12. Juli 1881 (3): dieses letzte Datum wird als Amtsdatum in seiner Sammlung Ich schneide die Zeit aus genannt. Kurt Pinthus, Herausgeber der Anthologie Menschheitsdämmerung und der Sammlung Das Kinobuch nennt den 12. Juni 1881, der Kritiker Klaus Petersen (4) den 21. Juni 1881, während Klaus Schuhmann, Herausgeber der ausgewählten Sammlung des Werkes Rubiners in der ehemaligen DDR, sein Geburtsdatum auf den 12. Juli 1881 festlegt (5). Die Zweifel an der Angabe des Tages und des Monats gelten nicht für den Jahrgang, wie die Berichtigung Kurt Hillers in einem Brief bestätigt (6).

(1) Der Name Rubiner und die Doppelbetonung: es ist nicht sicher, wie der Name Rubiner betont wird, ob auf der ersten oder auf der zweiten Silbe.

(2) Galizien, eine historische Region Ostpolens, entspricht der heutigen Westukraine. Es ist belegt, dass Ludwigs Tante, Rosa Rachel Rubiner, aus der ostgalizischen Stadt Stanislau kam. Ihr Vater Aron Rubiner und ihre Mutter Ides gehörten zu den frühen jüdisch-galizischen Auswanderern, die sich in Wien niederließen, wo Siegfried Nacht, Ludwigs Vetter, auf die Welt kam und die ersten Jahre bei den Großeltern im jüdischen Viertel verbrachte. Fabius Nacht, Ludwigs Onkel, war Arzt und nach seiner Rückkehr nach Buczacz sorgte er für die medizinische Versorgung und verbreitete sozialistische Ideen im Schtetl, der jüdischen Siedlung. Vgl. Werner Portmann, Die wilden Schafe, Unrast, Münster, 2008, S.11-16-17-20.

(3) Wolfgang Haug, Ludwig Rubiner. Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908-1919, Luchterhand Literaturverlag, Darmstadt, 1988, S.32.

(4) Klaus Petersen, Ludwig Rubiner. Eine Einführung mit Textauswahl und Bibliographie, Bouvier, Bonn 1980, S.8.

(5) Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, Röderberg, Frankfurt am Main, 1976, S.337.

(6) Wolfgang Haug, ibid., S.32.




Im Brief vom 29.3.1918, den Rubiner aus Muralto (Locarno) an Busoni schrieb, ist sein Geburtsdatum zweifelsfrei geklärt: "Ich bin am 12. Juni geboren und habe zweimal im Leben Geburtstag zu Pfingsten gehabt." (7)

Rubiner besuchte das evangelische Gymnasium und schrieb sich am 10. Oktober 1902 in der medizinischen Fakultät der Berliner Universität ein. Nach einem Semester wechselte er in die philosophische Fakultät und studierte bis Ende 1906 Musik, Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur. Während der Universitätszeit nahm er an der Berliner Freien Studentenschaft teil, saß dem literarischen Bereich vor und hielt Vorträge über Tolstoi, Strindberg und Wedekind. Innerhalb derselben Studentenverbindung beschäftigte er sich auch mit Theateraufführungen. Seine Unduldsamkeit dem Spießbürgertum des Universitätslebens gegenüber brachte ihn dazu, sich mit dem Berliner avantgardistischen Milieu und mit anarchistischen Kreisen in Verbindung zu setzen. Rubiner war Mitglied der Neuen Gemeinschaft und orientierte sich an der Mystik und an dem anarchistischen Denken Max Stirners.

(7) In meiner Dissertation habe ich mich an die Angaben von Wolfgang Haug und Klaus Petersen gehalten. Damals hatte sich gezeigt, dass die Forscher sich nicht ganz einig über Rubiners Geburtsdatum waren. Der Briefwechsel zwischen Rubiner und dem Komponisten Ferruccio Busoni gibt nun Aufschluss. Die Zweifel um den Geburtstag Rubiners sind damit endgültig beseitigt. Rubiners Briefe an Busoni stammen aus dem Busoni-Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin. Sie sind mir freundlicherweise von Herrn Dr. Laureto Rodoni überreicht worden.

Dieses weitere Dokument, das in der Prozessakte (die Akte befindet sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, München) gegen seine Frau, Frida Ichak-Rubiner, enthalten ist, bestätigt das Geburtsdatum von Rubiner:

Der Polizeipräsident zu Berlin.

Berlin, 24. Oktober 1919.

Dem Schriftsteller Dr. Ludwig Rubiner, 12. Juni 1881 in Berlin geboren, Staatsangehörigkeit Österreich, hierselbst W.30, Viktoria-Luise-Platz wohnhaft, wird auf seinen Wunsch bescheinigt, dass gegen seine Ehefrau Frau Dr. Frida Rubiner, geb. Ichak, 28. April 1879 Mariampol geboren, seit ihrer Mitte Juni 1919 aus München erfolgten Rückkehr bis zu ihrer Verhaftung Nachteiliges hier nicht bekannt worden ist, insbesondere nicht, dass sie an politischen Veranstaltungen, Versammlungen oder Demonstrationen der Kommunisten, Spartakisten oder Unabhängigen teilgenommen habe.

I.A. Ehlerding

Rubiners utopische und anarchistische Neigung wurde durch den Umgang mit seinem Vetter Siegfried Nacht verstärkt. Die von Stirner übernommenen Ideen seines Cousins haben stark auf Rubiners politische Ansichten eingewirkt, was seinem traditionsbewussten Vater, Wilhelm Rubiner, missfiel. Er versuchte, das enge Verhältnis zwischen ihnen zu verhindern, aber ohne Erfolg. Ludwig und Siegfried blieben in Briefkontakt. Am 12.8.1908 schrieb er an seinen Vetter:

Seit Jahren sollte ich Dich finden – ich habe vergeblich Deine Adresse gesucht. Im vergangenen Jahr in Paris, in diesem Jahr in Rom – umsonst! Ich suchte Dich, denn unser Zusammensein hat in jeder Beziehung den tiefsten Eindruck bei mir hinterlassen. (8)

Am 16.8.1908 nennt Rubiner den Einfluss, den sein Cousin auf ihn ausübte, „Stirnertaumel“ (9) und spricht von seinem Hang zum Visionären:

Aus Deinem Brief weht ein guter Wind! Ich brenne darauf Dich bald persönlich zu sehen und mit Dir zu reden. Es wird sich bald zeigen, dass sich der Gegensatz in unseren Charakteren sich in den Jahren noch verschärft hat. […] Bei Dir setzt sich jede Vorstellung sofort in Action um, bei mir verwandelt sich jede Action sofort in Vision. […] Auf uns alle, […], wirkte Stirner wohl verschieden. Auf Dich nach der Richtung der Tat. Auf mich ganz anders. Was ich heute weiß und Dir sagen kann, das war mir damals noch ganz unklar. Stirner ist das Buch, das in einer scheinbar unpsychologischen Form, in Wahrheit die Psychologie des Anarchismus gibt. Dieses Buch kann also nur auf den Gleichgestimmten wirken. Es ist esoterisch! (10)

1903 lernte er Erich Mühsam, Paul Scheerbart, Renè Schickele, Ferdinand Hardekopf, Wilhelm Herzog und Herwarth Walden kennen, die mit ihren literarischen Zirkeln und Zeitschriften zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismus zu zählen sind. Die Freundschaft mit Walden ermöglichte es Rubiner, seine literarische Tätigkeit als Kulturkritiker zu beginnen.

Rubiner verbrachte die erste Hälfte des Jahres 1908 in Italien. Im April ging er auf Wanderschaft durch Chiavari, La Spezia und Pisa und kam nach Florenz (11). Von seinem Rom-Aufenthalt erzählte er in einem Brief an seinen Cousin (vgl. Fußnote n° 8). Während der Rückfahrt hielt er sich zur Kur in einem Sanatorium in Feldberg in der Mark auf. In Berlin, wohin er im August zurückkehrte, wohnte er in der Bendlerstraße 13 und fuhr zwei Monate später nach Weimar. 1909 hielt er sich in Russland auf, dann in Österreich und in der Schweiz.

Vom Beginn seiner Tätigkeit als Literaturkritiker interessierte er sich für fremdsprachige Literatur, besonders für die französische und russische, weil er beide Sprachen kannte. 1907 schrieb er ein Essay über Joris Karl Huysmans. 1909 übersetzte er drei Gedichte Fjodor Sologubs: Zwei Herrscher, Die Phantasie und Der Scharfrichter von Nürnberg. Dem russischen Dichter widmete er auch ein Essay. Im selben Jahr übersetzte er die Erzählung Paul Verlaines Madame Aubin. 1910 schrieb er ein Essay über den belgischen Schriftsteller Fernand Crommelynck, übersetzte ein weiteres Gedicht Sologubs Der Traum, den Roman Michael Kusmins Taten des grossen Alexander (1908) und die Novellen Gogols Abende auf dem Gutshof bei Dikanka (1831-1832), bei deren Übersetzung auch seine Frau Frida Ichak mitarbeitete. Rubiner lernte sie 1908 kennen.

1910 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Ernst Ludwig Grombeck den Kriminalroman Die indischen Opale. Von 1911 bis 1918 wirkte er bei der Zeitschrift Franz Pfemferts Die Aktion mit. Im November 1912 zog er nach Paris um, wo er mit Carl Einstein, Mitarbeiter der Zeitschrift Der Demokrat, in der Rue de Veaugirard in einem kleinen Hotel wohnte. Max Cahén berichtete: “Sie wohnten beide in einem kleinen Hotel unweit St. Sulpice und bezeichneten sich selbst als Klub der Neupythagoräer. (12)“ Der Name des Klubs unterstrich, wie zu dieser Zeit Einsteins und Rubiners Denken um mystische Kabbala kreiste. In Paris vermittelte er zwischen der deutschen und französischen Literatur: er schrieb regelmäßig für die Zeitschriften Die Schaubühne, März und Die Aktion Artikel über die wichtigsten französischen Ereignisse der Zeit, die er direkt bei seinen Besuchen des Künstlerlokals Café du Dôme erleben konnte. Dieses Lokal war in der Tat der Treffpunkt aller deutschen Künstler, die mit dem modernen Frankreich verbunden waren. (13)

1912 verzichtete Rubiner auf die Kulturkritik und wandte sich der Sozialkritik zu. In Paris verfasste er das politische-literarische Manifest der Sozialkritik Der Dichter greift in die Politik, das in demselben Jahr in der Aktion erschien.

1913 veröffentlichte er Die Kriminalsonette, die er zusammen mit dem reichen, amerikanischen Händler Livingstone Hahn und dem Mitarbeiter der Zeitschrift Die Aktion, Friedrich Eisenlohr, schrieb. Er übersetzte und schrieb das Vorwort zum Abenteuerroman des Landstreichers Vidocq, der in Frankreich während der revolutionären Zeit lebte. Der Roman Landstreicherleben. Denkwürdigkeiten Vidocqs des Mannes mit hundert Namen wurde 1920 veröffentlicht.

Im Frühjahr 1913 kehrte Rubiner für kurze Zeit nach Berlin zurück. Es ist unmöglich, das Datum seiner endgültigen Heimkehr genau festzulegen. Im Mai 1914 schickte er noch der Zeitschrift Die Aktion einen Artikel über eine Ausstellung der Neuen Sezession in Paris. Erst Ende 1914 ist sein Aufenthalt in Berlin dokumentiert: in diesem Jahr begann er bei der Zeitschrift Die Weißen Blätter mitzuarbeiten, in der er die programmatische Schrift Homer und Monte Christo veröffentlichte.

1914 schrieb er die Pantomime für den Stummfilm Der Aufstand, die in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammlung Das Kinobuch enthalten ist.

Bei Kriegsausbruch ging Rubiner mit seiner Frau freiwillig in die Verbannung; sie fuhren nach Zürich, wo sie in der Hadlaubstraße 11 wohnten (14). Während der Schweizer Zeit wurde er die Seele einer starken Gruppe von verbannten Intellektuellen und leitete die Zeitschrift "Zeit-Echo" in den vier Heften von 1917. In der Schweiz unterhielt er enge Beziehungen zu den Zeitschriften Die Aktion und Die Weißen Blätter: 1916 veröffentlichte er in der letztgenannten Zeitschrift die Gedichtsammlung Das himmlische Licht, die im selben Jahr auch als Buch erschien. 1916 veröffentlichte er das Manifest Die Änderung der Welt in der Zeitschrift Das Ziel. 1917 war ein sehr schöpferisches Jahr: er leitete das Zeit-Echo, in dem er, noch tätig als Literaturkritiker, den aus dem Russischen übersetzten Briefwechsel von Tolstoi unter dem Titel Revolutionstage in Rußland veröffentlichte Es handelt sich um die Briefe, die Tolstoi seinen engsten Freunden in der letzten Zeit seines Lebens über die Ereignisse der russischen Revolution schrieb.

Im Zeit-Echo erschien auch das von seiner Frau übersetzte Zwiegespräch Der Fremde und der Bauer von Tolstoi. In der Aktion veröffentlichte er die programmatische Schrift Der Kampf mit dem Engel, in der von Pfemfert herausgegebenen Sammlung Das Aktionsbuch fünf Gedichte Zurufe an die Freunde und schließlich die Anthologie Der Mensch in der Mitte, in der Rubiner die vorher veröffentlichten Essays zusammenfasste.

1918 gab er die Ausgabe des Tagebuches von Tolstoi heraus, das er zusammen mit seiner Frau übersetzte, und veröffentlichte das Manifest Die Erneuerung in der Zeitschrift Das Forum. Am 24. Dezember 1918 bekam er in Zürich dank seines galizischen Ursprungs einen österreichischen Pass und am 30. Januar 1918 verließ er die Schweiz und kehrte über München nach Berlin zurück. In Berlin wohnte er in der alten Wohnung von Ferruccio Busoni am Viktoria-Luise Platz und begann seine Zusammenarbeit mit Kiepenheuer in Potsdam als Lektor.

Ende 1918 haben Rubiner und seine Frau nicht freiwillig die Schweiz verlassen und vielleicht hätten sie einen Ausweisungsbefehl erhalten, weil sie vom deutschen Generalstab wegen Anstiftung zum kommunistischen Aufruhr verdächtigt wurden. Sie wurden von den Schweizer Behörden und der Deutschen Botschaft streng überwacht und ihre Wohnung in Zürich wurde durchsucht. Frida Ichak-Rubiner galt als überzeugte Kommunistin an der Seite ihres Ehemannes, des Dichters.

Unter dem Druck der Bespitzelung verließen sie die Schweiz. Busoni, einer der engsten Freunde Rubiners während des Exils, schrieb einen Brief an Albert Biolley, seinen Agenten, in dem er ihm anvertraute, in Zürich allein geblieben zu sein und dass auch Rubiner weggegangen sei, ohne sich den Grund seiner plötzlichen Abreise erklären zu können (16). Der Verdacht, dass Frida Ichak die Anstifterin der Revolution war, wurde 1918 durch ihre Beteiligung an der Münchner Räterepublik bestätigt. (17)

1919 veröffentlichte Rubiner zum zweiten Mal die Essaysammlung Der Mensch in der Mitte dann zwei Anthologien Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution und Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende und das Drama Die Gewaltlosen, das er zwischen 1917 und 1918 in der Schweiz schrieb. Das Drama erschien in der Reihe des Verlages, die Kiepenheuer für die neuen Theaterstücke gründete. In diesem Jahr veröffentlichte Rubiner auch das Essay Die kulturelle Stellung des Schauspielers in der Zeitschrift Freie Deutsche Bühne. Im Frühjahr 1919 gründete er in Berlin zusammen mit Arthur Holitscher, Rudolf Leonhard, Franz Jung und Alfons Goldschmidt den Bund Proletarischer Kultur nach sowjetischem Muster. Der Bund entstand nicht innerhalb der Kommunistischen Partei und wollte mit der Einführung der proletarischen Kultur den Kampf der revolutionären Massen um die Befreiung vom bürgerlichen Wirtschafts- und Bildungsmonopol unterstützen. Dem Bund gehörte auch das proletarische Theater an, dessen Ziel es war, der proletarischen Kultur ein Publikum zu geben: die Aufführungen fanden in den Fabriken und in industriellen Kreisen statt.

Die Aufführung endete mit der Premiere des Dramas Freiheit von Herbert Kranz am 14. Dezember 1919. Der Bund ging 1920 wegen Meinungsverschiedenheiten auseinander, ohne das Drama Die Gewaltlosen aufzuführen.

In der letzten Zeit seines Lebens arbeitete Rubiner zusammen mit seiner Frau an der Übersetzung der Romane und Erzählungen von Voltaire, für die er den ersten Band herausgab. Unter dem Titel Der Dichter Voltaire hatte er ein Jahr zuvor in den Weißen Blättern ein Essay über Voltaire veröffentlicht, das er als Vorwort für den ganzen Band wählte.

In der Nacht zwischen dem 26. und 27. Februar 1920 (18) starb Rubiner infolge einer sechswöchigen Lungenkrankheit in einer Berliner Privatklinik in der Augsburgerstraße, einige Tage nachdem die Gesellschaft Das junge Deutschland ihm einen Ehrentitel als Würdigung seiner literarischen Tätigkeit verliehen hatte. Am 3. März wurde er in Berlin-Weißensee begraben. Die Grabreden wurden von Franz Pfemfert und Felix Holländer gehalten. (19)

(8) Werner Portmann, ibid., S.45.

(9) Ibid.

(10) Ibid.

(11) Der italienische Aufenthalt von Rubiner konnte bis jetzt nicht näher erforscht werden. Der Autor der Monographie über Rubiner, Herr Dr. Klaus Petersen, teilte mir am 18. 9. 2004 mit, dass er zur Zeit seiner Forschungen über Rubiner nach Ost-Berlin (DDR) reiste und in der dortigen Akademie der Künste - die inzwischen mit der West-Akademie zusammengelegt worden ist - suchte. Er vermutete Material in Ost-Berlin, weil Rubiners Ehefrau zuletzt in der DDR lebte. Dort im Archiv der Akademie der Künste fand er als einziges Dokument Rubiners Pass mit dem Einreisestempel nach Italien. Das Staatsarchiv zu Florenz antwortete mir am 20. 6. 2007, dass keine Eintragung bei Pensionen oder Gasthöfen und keine Mitteilung an das Polizeipräsidium mehr auffindbar seien, weil die Unterlagen periodisch aussortiert werden. In der Nationalbibliothek zu Florenz sind keine Rubiner-Briefe aufbewahrt, sein Name erscheint auch nicht im Generalanzeiger der Stadt und der Provinz von Florenz des Jahres 1908, auf der Seite der in Florenz wohnhaften Ausländer. In dieser Rubrik sind aber nur die Ausländer eingetragen worden, die mindestens ein Jahr in der Stadt und in der Umgebung wohnhaft waren. Rubiner blieb nur drei Monate in Florenz.

(12) Max Cahén, Der Weg nach Versailles. Erinnerungen 1912-1919, Harald Boldt, Boppard, 1963, S. 16-17.

(13) Emil Szittya, Das Kuriositäten-Kabinett, See-Verlag, Konstanz, 1923, S.106.

(14) Für Rubiners verschiedene Aufenthaltsorte in Zürich vgl. Ahmet Arslan, Das Exil vor dem Exil. Leben und Wirken deutscher Schriftsteller in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges, Tectum Verlag, Marburg, 2004, S.174-175.

(15) In seinem im "Tages-Anzeiger" erschienenen Artikel Der Cherubiner vom Zürichberg vom 9. 6. 2004 erläutert Peter Müller ausführlich die Situation, in der das Ehepaar Rubiner sich in der Schweiz befindet.

(16) http://www.rodoni.ch/busoni/geradelinie.html

(17) Vgl. Die Akte Frida Ichak-Rubiner, aufbewahrt im Münchner Staatsarchiv.

(18) Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung Abend-Ausgabe vom 27. Februar 1920.

(19) Am Grabe Ludwig Rubiners, Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung vom 6.3.1920.




Ludwig Rubiner und seine Zeit:


seine Tätigkeit als Kritiker und Literat

Sein erstes Gedicht Zu den Höhen erschien 1904 in der anarchistischen, von Senna Hoy (alias Johannes Holzmann) herausgegebenen Zeitschrift Der Kampf. 1905 arbeitete er bei der von Rudolf Pannwitz gegründeten Zeitschrift Charon mit lyrischen Texten mit: Der Brunnen und Nach dem Streit. 1906 begann er wie sein Vater eine Tätigkeit als Kritiker und Besprecher und bis 1911 veröffentlichte er Glossen, Theaterkritiken und Gedichte in den Zeitschriften Die Gegenwart, Morgen, Der Demokrat, Das Theater, Die Schaubühne, Das Magazin, Die Fackel, Der Sturm, Pan, Revolution, März, Das Ziel und Zeitschrift für Individualpsychologie. Es handelt sich um kurze Schriften über literarische Themen und Persönlichkeiten, Essays über Schriftsteller, Komponisten und Maler, Würdigungen, Besprechungen einzelner literarischer, theatralischer und musikalischer Werke und Erläuterungen von Kunstausstellungen, z. B. der Ausstellung älterer englischer Maler. Was die deutsche Literatur betrifft besprach er Werke von Else Lasker-Schüler (Das Peter-Hille-Buch), Max Brod, Ernst Blaß, Arthur Holitscher, Peter Hille und Heinrich Mann; hinzu kamen Rezensionen ausländischer Werke z. B. des französischen Schriftstellers Joris Karl Huysmans, des Russen Fjodor Sologub, des belgischen Dramatikers Fernand Crommelynck und des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer (Weh' dem, der lügt). Was die Malerei angeht erläuterte er die Künstler der Berliner Neuen Sezession, Henri Rousseau und Henri Matisse.

In der Glosse Politisierung des Theaters (1908) thematisiert Rubiner seine kritische Haltung gegenüber dem modernen Theater und unterscheidet zwischen Kunsttheater (20) und politischem Theater (21). Zur Zeit der Verfassung dieser Glosse lag der Höhepunkt der Schauspielkunst bei den Inszenierungen von Max Reinhardt und die Entstehung eines innovativen, gesellschaftspolitischen Theaters schien undenkbar zu sein. Zehn Jahre später wird Rubiner diese Auffassung mit der Gründung des Proletarischen Theaters in die Praxis umsetzen. Rubiners Ansicht bezüglich des Bewertungsmaßstabes im ästhetischen Bereich ist der Zentralpunkt der Glosse: der ästhetische Wert wird vom aktivistischen, politischen Wert der kritischen Untersuchung gesellschaftlicher Themen und Thesen verdrängt.

(20) Ludwig Rubiner, Politisierung des Theaters, in Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.153.

(21) Ludwig Rubiner, ibid., S.154.

Als Musikkritiker schrieb er über Claude Debussy, Hans Pfitzner, Arnold Schönberg, Richard Strauss, Ferruccio Busoni und Giacomo Puccini. 1910 veröffentlichte er den Brief an ein Orchestermitglied der Gura-Oper, in dem er die Kritik an der Virtuosität des Basstrompeters anlässlich der Tristan-Aufführung der Sommeroper teilte. Der Brief erschien in den Signalen für die musikalische Welt:

Aber bedenken Sie doch, es handelt sich ja gar nicht um Sie, weder um Ihre Virtuosität noch um Ihr Instrument noch um Ihre polizeiliche Legitimation, weder um Ihre Familie noch um Ihre Taschenuhr noch um Ihr Ansehen. Niemand, der diese Kritik las, sagte sich: "Aha, die Baßtrompete erging sich...das ist ja Herr P. so so!" Niemand. Auch der Herr Kapellmeister Stransky oder der Herr Direktor Gura ist uns Zuschauern nicht mehr als eine Türklinke. Wir schätzen ihre Persönlichkeiten weder hoch noch gering, wir schätzen sie überhaupt nicht. Sie sollen uns zufrieden lassen mit ihren Persönlichkeiten, wir wollen einen Eindruck. (22)

(22) Ludwig Rubiner, Brief an ein Orchestermitglied der Gura-Oper, in Klaus Schuhmann, ibid., S.156.

Rubiner brachte sich in die Diskussion zwischen dem Kritiker und dem Orchestermusiker ein, um seine Missbilligung der Selbstdarstellung im Sinne des Persönlichkeitskults auszudrücken. Mit der Forderung, die persönliche Inszenierung preiszugeben, verband sich die Intention, die Distanz zwischen Kunstschöpfer und Publikum aufzuheben. An erster Stelle stand die Anonymität des Künstlers. Im Brief deutete er auch seine Kritik an der Musik an: ihre Aufgabe erschöpfte sich im Schaffen einer illusorischen Welt der reinen Phantasie und in der Isolation des Zuschauers, dessen Urteilsvermögen im Namen der Unterhaltung vernebelt wurde. Die Musik kann also keine soziale Wirkung hervorbringen, bleibt widersprüchlich und verwirrend und schadet dem Gemeinschaftsideal, das sich Rubiner wünschte. 1912 wird er diese Auffassung ausdrücklich darlegen:

Alle Menschen waren heute musikalisch. Die Musik ist die Kunst, sich auf die leichteste und bequemste Art seinen Verpflichtungen zu entziehen. Hineinzuschlüpfen in Polyphonien: ist ein Weg außer sich zu geraten, ohne für andere dazusein. (Die Musik - die gute Musik, und je besser, desto schlimmer - ist der Weg des Vereinzelns. Die Deutschen sind musikalisch: isoliert!) Musikalisch ist der Gegensatz zu Moralisch. (23)

Von dieser Sichtweise aus ist die Freundschaft zu Busoni deshalb von großer Bedeutung.

Im gleichen Jahr besprach Rubiner Busonis musiktheoretische Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907):

Berlin, d.[er] 15. I. 1910. Johann Georgstr. 24. Hochverehrter Herr! Ich erlaube mir, Ihnen meinen Aufsatz über Ihre Musik - Aesthetik zu übersenden. Hoffentlich missfällt er Ihnen nicht allzusehr. Von einem so furchtbar aufregenden Buch konnte ich nur in der allerkühlsten Form sprechen. Mein Aufsatz hat demagogische Absichten, das gebe ich offen zu. Das heisst, er soll den Kreisen gebildeter Nichtmusiker anregende Stimmung für die Lektüre geben. Bei den wirklichen … Italienisch, sondern bloss mit blöden Augen Musik machen. Es wäre sehr schön, wenn ein bedeutender Mann einiges zur Diskreditierung der Musik und der Musiker unternähme, damit die verblödeten Leute mal merken, wenn wirklich was menschlich Bedeutsames geschieht. Dies meine Privatmeinung, die ich mir erlaubte Ihnen mitzuteilen, da ich für musikalische Angelegenheiten sonst nicht die geringsten Ambitionen habe. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Ludwig Rubiner. (24)

Rubiner hegte für Busoni besondere Verehrung, weil er ihn für „den grössten Musiker unter den heute Lebenden“ (25) hielt. Die umfangreichen Korrespondenzen mit dem italienischen Komponisten aus den Jahren 1910 bis 1919 - aus Berlin, aus Paris, der größte Kern aus der Schweiz (Zürich-Locarno-Spiez) und die letzten Briefe aus Berlin - geben Aufschluss über eine sehr wichtige Freundschaft, die auf geistiger Verwandtschaft, Vertraulichkeit und gegenseitiger Wertschätzung beruhte. Rubiner war 29 Jahre alt, als er in Berlin die ersten Briefkontakte mit Busoni knüpfte, Busoni spielte zu der Zeit eine herausragende Rolle als Pianist und als Komponist. Rubiner erkannte die Gleichgesinnung zu Busonis Anschauung der Musik schon beim Besprechen seiner Musikästhetik 1910, er teilte mit ihm die Überzeugung, dass das Kunstwerk „die vollendetste Opferung der Persönlichkeit“ (26) forderte. Im Schweizer Exil gehörte Rubiner zu seinem engsten Freundeskreis.

(23) Ludwig Rubiner, Die Anonymen, Die Aktion, 1912, S.301

(24) Rubiner an Busoni. Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin. Zitiert nach dem Original.

(25) Ludwig Rubiner, Tröster in Der Mensch in der Mitte, Verlag der Wochenschrift Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf, 1917, S.67.

(26) Ludwig Rubiner, Ferruccio Busoni Musikästhetik, in Klaus Schuhmann, ibid., S.166.

Die Mitarbeit mit Herwarth Walden ging auf das Jahr 1906 zurück und dauerte bis 1910, als Walden eine der wichtigsten avantgardistischen Publikationen des Expressionismus - Der Sturm – herausgab. Der Sturm setzte sich für die Förderung der Kunststilrichtungen der Moderne ein, unter anderem für den italienischen Futurismus. Mit Walden teilte Rubiner die kulturellen Interessen für Literatur, Musik und bildende Kunst. 1906 schrieb er das Textbuch für die Oper Waldens Der Nachtwächter, auf das er Gustav Mahlers Aufmerksamkeit zu lenken versuchte. 1910 schrieben sie zusammen für den Schlesinger'schen Opernführer die Einleitung zur Madame Butterfly Puccinis. 1903 gründete Walden den Verein für Kunst und brachte Rubiner mit vielfältigen kulturellen Kreisen in Berührung. Walden hatte schon Erfahrung als Redakteur verschiedener Zeitschriften gesammelt: Der neue Weg, Das Theater, Morgen, Nord und Süd, die Rubiner die Möglichkeit gaben, seine ersten Rezensionen im Rahmen der Kulturkritik zu veröffentlichen. Als Rubiner nach 1910 begann, sich sozial und politisch zu engagieren, distanzierte er sich von Walden, mit dem er aber in Kontakt blieb und sich austauschte; er berichtete ihm regelmäßig über das Kulturleben in Paris, wohin er 1912 umzog. In Fleury, der Künstlerkolonie, die vom holländischen Maler Kees van Dongen gegründet und von Otto van Rees, Blaise Cendrars und Otto Freundlich besucht wurde, lernte Rubiner Marc Chagall kennen. Marc Chagall stellte seine Bilder in der ersten deutschen Herbsthalle Waldens aus, und Rubiner schloss mit ihm eine wichtige Freundschaft, die durch häufige Briefwechsel vertieft wurde. Er trat auch für ihn ein, wenn Walden seine Bilder nicht bestellen wollte. (27)

Von 1910 bis 1912 war Rubiner Mitarbeiter an der Berliner-Zeitschrift Pan, zu deren Mitwirkenden auch Busoni zählte. Die öffentliche Verantwortlichkeit des Intellektuellen, die Rubiner zum programmatischen Leitmotiv seines Werkes macht, begann klare Konturen zu gewinnen. Er veröffentlichte die Glosse Kulturkonservativ, die Kritik zu Arthur Holitschers Roman Worauf wartest du?, das Gedicht Die Stadt, die von der Großstadt-Lyrik Georg Heyms beeinflusst ist, und vier Artikel musikalischen Inhalts: die Kritik zu Arnold Schönbergs Sinfonie Pelleas und Melisande, die Kritik zu Richard Strauss‘ Suite Rosenkavalier, einen Aufsatz Kultur, Musik und Pfitzner und das Feuilleton In der italienischen Oper. Zur Wirkung der Isolation, die aus der illusorischen Atmosphäre der Oper entsteht, erzählt der junge Honorius aus eigener Erfahrung:

Was geschieht, fragte Honorius, wenn ich heute hier sterbe, mitten unter den Leuten? Sicherlich nichts besonderes. Nicht einmal eine Störung gibts. Man wird das gar nicht bemerken unter den fünfhundert Leuten, die hier im kleinen Teatro Filodrammatico sind, und auf die jene Bühne wirkt, als sässen sie zu Fünfzigtausend da. Wir sitzen hier alle in einer neuen ungewohnten Sphäre. Um uns ist eine unbekannte Luft, so durchsichtig, daß wir uns selbst nicht mehr sehen. Die Arie der Sängerin umschliesst uns. Die gläsernen Himmel ihrer Fiorituren, die unfassbar umschwimmenden Wolken ihrer Triolen, das unsichtbare Vogelschwirren der Cadenztriller sind nun unsere Welt. Wo blieb die Wirklichkeit? Unsere Körper sind vernichtet. (28)

Die musikalischen Artikel sind ein Beweis dafür, wie gering Rubiner die zeitgenössische Musik einschätzte. Er nannte Strauss „ein Abenteurer des Moments“ (28), beschrieb Pfitzner als denjenigen, der „seine moderne und stark neurasthenische Virtuosität verheimlichen will“ (30) und griff auf Mozart und Busoni zurück, die „typische Vertreter (als Schöpfer) des freien Willens“ (31) sind. Rubiner pries Mozarts Musik:

Diese Musik der Zusammenfassung, der Kraft - der Heiterkeit“ sozialisiert uns. (32)

(27) Marc Chagall – Mein Leben - Übersetzung aus dem Französischen von Lothar Klünner, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1959, S.171.

(28) Ludwig Rubiner, In der italienischen Oper, Pan, 1910-1911, S.279.

(29) Ludwig Rubiner, Rosenkavalier, Pan, S.276.

(30) Ludwig Rubiner, Kultur, Musik und Pfitzner, Pan, S.210.

(31) Brief vom 22. April 1918 an Busoni. Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek – Berlin.

(32) Ludwig Rubiner, Pelleas-Sinfonie, Pan, S.67.

In den Jahren 1912 bis 1917 wendete sich Rubiner der Sozialkritik zu und seine Mitwirkung an der Aktion und an den Weißen Blättern deutete auf diesen Perspektivenwechsel zur literarisch-politischen Debatte hin; vor allem Pfemferts Zeitschrift kam seinen politischen Vorstellungen am nächsten.

1912 folgte der Aufsatz Die Anonymen zum Lob der von Franz Blei publizierten Leipziger Zeitschrift Der lose Vogel, deren Beiträge anonym erschienen. Rubiner teilte mit Blei die Ansicht, dass der Dichter auf die Betonung seiner Persönlichkeit verzichten musste. Zu den Zielen dieser Gruppe von Schriftstellern gehörte in erster Linie die Anonymität, die die Überzeugung offenbart, dass der Geist kein Privileg ist, sondern die Grundvoraussetzung der Gemeinschaft. Der Vorzug der Publikation ist darin zu sehen, dass sie sachlich ist und ethische Leitlinien erarbeitet hat:

Musikalisch ist der Gegensatz zu Moralisch. Die neue Zeitschrift ist ohne Musik; trocken. Die Zeitschrift der Anonymen ist das neue Manifest der Moral! (33)

(33) Ludwig Rubiner, Die Anonymen, Die Aktion, S.301.

Die Jahre des Paris-Aufenthaltes, von 1912 bis 1914, gaben Rubiner entscheidende Anstöße zur Ausweitung des kulturellen Austausches. Die Bewunderung für die französischen Literaten, die Geist und öffentliches Engagement verbinden, war die Quelle seines schriftstellerischen Schaffens. Von Paris aus berichtete er 1913 über Neuerscheinungen für die Aktion: mit dem Aufsatz Eine Zeitschrift ist etwas Wichtiges würdigte er die französische Zeitschrift Montjoie und mit der Kritik zu Prose du Transsibérien rezensierte er die Gedichte des Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars. Für die Münchner Zeitschrift März besprach er den Gedichtband von Ernst Blass Die Straßen komme ich entlang geweht, dessen Gedichte er mit den Worten „ohne zivilisatorische Voraussetzungen“ (34) pries. Auf der Suche nach Gleichgesinnten, die seine Ansicht über die zentrale Rolle des Geistes in der Gemeinschaft teilten, ließ Rubiner geistige Parallelen zwischen Blassens Lyrik, den Versen von Max Brod und der Kunst des Malers und ehemaligen Zoll-Angestellten Henri Rousseau erkennen, auf die er sich am Ende der Rezension bezog:

Und diese neuen Dichter reden so zu Uns (wie der alte Douanier Henri Rousseau in Seligkeit malte): daß die böhmische Frau eines Berliner Trambahnschaffners sie abends, nach dem müden Essen, voller Glück begreifen kann. (35)

Rubiners Darlegungen ließen auf seine Auffassung von Literatur als politischer Aktion, als sozial-politischer Aufforderung zum Bewusstwerden schließen. Er stellte an die Literatur und an die Kunst moralische Aufklärungsansprüche zum Bloßstellen der Realität und zum kritischen Reflektieren der Welt. Ernst Blaß, Max Brod und Walter Hasenclever, den er im 1913 veröffentlichten Aufsatz Lyrische Erfahrungen in Bezug auf das Gedichtbuch Der Jüngling erwähnte, waren nur einige der Vertreter dieser Anschauung. Die geistige Leidenschaft der modernen Lyriker besteht „im Bewußtwerden vom Zusammenleben der Menschen auf dieser Erde; von der Existenz der anderen“. (36)

(34) Ludwig Rubiner, Gedichte des jungen Ernst Blaß, in Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.197.

(35) Ludwig Rubiner, ibid., S.198.

(36) Ludwig Rubiner, Lyrische Erfahrungen, in Klaus Schuhmann, ibid., S.200.

Rubiner sah den Dichter als Träger geistiger und sittlicher Werte, die in der Gegenwart wiederbelebt werden müssen, und als Voraussetzung der politischen Aktion gelten. Die Zwangsorganisation der Gesellschaft hatte den Schriftsteller isoliert und entfremdet, hatte ihn seiner schöpferischen Kraft beraubt und ihn von seiner öffentlichen Verantwortlichkeit ferngehalten. Der Dichter sollte aus seiner Isolation heraustreten und seine Intuition, die Rubiner als aktivistisches Element auffasste, zu Gunsten der geistigen Entwicklung des Menschen einsetzen; er sollte als Führer und als Mahner auftreten, der die Menschen der Industriegesellschaft zu einer neuen Spiritualität hinführt. Der moralische und politische Inhalt, zu dessen Fürsprecher er sich erklärte, wird in der literarischen Form von Aufrufen, Appellen und Manifesten abgefasst; für den politischen Dichter ist die ästhetische Wirkung als Selbstzweck nicht mehr relevant, sondern vor allem im Hinblick auf eine effektvolle, gefühlvolle Vermittlung einer prägnanten aktivistischen Botschaft, die durch die Dynamisierung der Sprache bewirkt wird. Stilmittel wie Konzentration, Telegrammstil mit knappen Mitteilungen, Wortballungen, Wortneubildungen, das Auflösen von Satzstrukturen sind charakteristische Merkmale für einen rhythmischen Sprachfluss, der sich nicht in einem streng geregelten Satzbau festlegen lässt.

Der Aufenthalt in Paris wurde durch eine Rückkehr nach Berlin im Frühling 1913 unterbrochen. Rubiner brachte seine Missbilligung über den Erfolg, den die Psychoanalyse und deren Hauptvertreter, den österreichischen Psychiater Otto Gross, im Kreis der deutschen Intellektuellen um Franz Pfemferts Gruppe geerntet hatten, deutlich zum Ausdruck. Mit der in der Aktion veröffentlichten Glosse Psychoanalyse ist die intellektuelle Kontroverse eröffnet:

Als ich, nach kurzem Aufenthalt, Berlin wieder verliess, hatte sich unterdessen die Psychoanalyse dort angesiedelt. Sie ist excessiv intelligent. [...] Sie ist jedoch ebenso beschränkt auch, insofern sie nämlich sich auf alles anzuwenden beliebt. (37)

Die Psychoanalyse unterlag den gleichen aktivistischen Bewertungsmaßstäben wie die Musik. Rubiner kritisierte die Psychoanalyse, weil sie einzelne Individuen analysiert, und dabei glaubt, die soziale Änderung im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts in Gang zu setzen. In der Glosse Erwähnung zur Psychoanalyse schrieb er:

Die musikalische, mathematische, soziologische Methode, oder die psychologische, oder irgend eine andere, haben nur mit sich selbst zu tun, nichts mit unseren Handlungen. (38)

(37) Ludwig Rubiner, Psychoanalyse, Die Aktion, 1913, S.483.

(38) Ludwig Rubiner, Erwähnung zur Psychoanalyse, Die Aktion, 1913, S.608.

Rubiner wies das offenkundigste Ergebnis der psychoanalytischen Methode ab: die Erleichterung der Anamnese (39). Es geht für ihn nicht um ein therapeutisches Verfahren, sondern um den Glauben an den Willen des Menschen, an dessen Verantwortlichkeit und Entscheidungsfreiheit, an den Geist. Hinter Rubiners ironischem Titel, Uff...die Psychoanalyse, verbirgt sich ein Meinungsbeitrag, der polemisch an die neue Wissenschaft herangeht.

Seine Ablehnung der Psychoanalyse setzte auch den expressionistischen Vater-Sohn-Konflikt und die Kritik der väterlichen Autorität ins Zentrum der öffentlichen Debatte. Er lehnte jegliche Form von Obrigkeit in der wilhelminischen Zeitepoche ab. Zwei Beispiele sprachen für den Einsatz der Psychoanalyse als Mittel zur Machtausübung. 1912 holte Rubiner den Dichter Jakob van Hoddis aus einer Nervenklinik, wohin seine Familie ihn einweisen ließ. 1913 folgte ein ähnlicher Vorfall in Wien: Otto Gross wurde verhaftet, aus Berlin ausgewiesen und von seinem Vater, dem einflussreichen Strafrechtler Hans Gross, in eine österreichische Irrenanstalt eingewiesen. Als Anklagepunkte wurden die Mittäterschaft an einem Mord und anarchistische Ansichten eingebracht. Mit dem Appell Aufruf an Literaten unterstützte Rubiner die Befreiungskampagne für Otto Gross, die von Franz Jung, Erich Mühsam und Franz Pfemfert in der Revolution und in der Aktion organisiert wurde und die zur Freilassung des Psychiaters führte. In seinem Appell wandte er sich an die deutschen Literaten und forderte sie auf, zu diesem Gewaltakt Stellung zu nehmen:

Ich bitte Sie, meine Kameraden, meine Blutsbrüder, meine Gegner, meine Feinde: Seien Sie nur dieses Mal nicht vornehm! [...] Machen Sie diese Sache öffentlich, benutzen Sie alle Mittel, die Ihnen einfallen, von den direkten bis zu den schmierigsten! [...] Sie arbeiten eine Idee aus, eine kleine Idee, [...] Sie werden sofort mißverstanden! [...] Männer mit Fäusten, die Macht über Sie haben, "transportieren" Sie im Viehwagen durch Deutschland; [...] Denn Sie kommen ins Irrenhaus. [...] Das geht mit größter Leichtigkeit, Ihre Verwandten brauchten es nur zu beantragen. (40)

(39) Ludwig Rubiner, Zur Krise des geistigen Lebens, in Wolfgang Haug, Ludwig Rubiner. Künstler bauen Barrikaden, ibid., S.121.

(40) Ludwig Rubiner, Aufruf an Literaten, Die Aktion, 1913, S.1175-1176.

Die Debatte um die Psychoanalyse äußerte sich daher an zwei Fronten: die Front der psychischen Integrität des Menschen, die dadurch verloren geht, und die Front des Generationskonflikts zwischen Vätern und Söhnen. Die Psychoanalyse beraubt den Menschen seines Wertes, entfremdet ihn von sich selbst, von seinen Mitmenschen, von der Kenntnisnahme, dass seine moralischen Ideale Gestaltungskraft haben und auf die Realität einwirken können. Rubiner begreift das Ethos dieser intensiven Aktivität des Geistes als Mittel zum Handeln, wie es 1913 im Exkurs Intensität formuliert wird: „Intensität ist Symptom für das bewußte Handeln im Geist“ (41). Die kurze Ausarbeitung zur Intensität versteht sich als Bindeglied zwischen den in der Aktion erschienenen programmatischen Aufsätzen Der Dichter greift in die Politik (1912) und Brief an einen Aufrührer (1913), in denen Rubiner deutlich seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass Handlungen der moralischen Kraft des Menschen entspringen:

Unsere Aufgabe [...] fürs Leben ist es, die Dinge aus einem Plan des Daseins (aus ihrem vegetativen, genusshaften Fürsichsein, ihrer "Wert"-losigkeit) in einen anderen zu heben; sie die Brandmarken der Wertung durchmachen zu lassen. Man kann sich "Verhalten" (existere) als eine Ebene vorstellen und "Bedeutung" als eine andere. Wir zwingen die Ebenen, sich zu schneiden. Die Schnittlinie ist der Ort "Wert". (42)

(41) Ludwig Rubiner, Intensität, Die Aktion, 1913, S.511.

(42) Ludwig Rubiner, ibid., S.511.

Rubiners idealistische Geistkonzeption zielt auf die Betonung des ethischen Elements und des wertenden Subjekts. Den objektiven, materiellen Gesellschaftsgesetzen wird die Priorität der subjektiven Entscheidung des Menschen für das Ideal gegenübergestellt. Der Geist stellt einen absoluten Begriff dar, der keinem Wandel unterworfen ist, der nicht vergeht und unberührt von äußeren Ereignissen ist. Der Geist wirkt mobilisierend, er schafft die Wandlung und ist das Endziel alles Handelns. Intensität definiert den geistigen Prozess, durch den der Mensch sich dieser verändernden Aktivität bewusst ist. Diese Formulierung ist religiös gefärbte Geschichtsphilosophie und setzt voraus, dass die Geschichte die Offenbarung des Absoluten ist und die Intensität den wegen seiner göttlichen Herkunft erwiesenen Wert des Menschen und sein darauffolgendes Handeln in der Gegenwart bezeichnet.

Ein Unbehagen am politischen und wirtschaftlichen System mit seinem veralteten Denksystem und am technischen Fortschritt, der die Einzelnen auf ihre Funktionalität und das Erlebte des Menschen auf die Erfahrung reduziert, macht sich bei Rubiner bemerkbar: er plädiert für ein neues Wertesystem und setzt den Geist als dynamischen und universellen Begriff, als Voraussetzung für die menschliche Erneuerung, für die Weltveränderung und für die aus dieser Wandlung resultierende Gemeinschaft von Geistmenschen.

Rubiner vertritt keinen elitären Intellektualismus, keine Aristokratie des Geistes, im Gegensatz zur aktivistischen Auffassung von Kurt Hiller; der Geist steht für ihn als umfassender Begriff mit kulturkritischen und utopischen Komponenten, es handelt sich nicht um ein Privileg, sondern ein unveräußerliches Recht des Menschen:

Aufleuchten läßt der, was uns treibt aus Tagen vor unserer Geburt her. Unser Erstes, unser Menschliches, unser Anständiges. (Und unser Gemeinsames:) den Geist [...] Den Geist, der gewißlich frei ist. Frei – unzufällig, unzeitlich, unbesitzlich – ewig und frei. (43)

(43) Ludwig Rubiner, Brief an einen Aufrührer, in Der Mensch in der Mitte, ibid., S.44.

Im 1913 in der Aktion erschienen Aufsatz Der Aristokrat stellte Rubiner einen Bezug zu dem biblischen Erzvater Jakob her, um den Typ des ahnungslosen Aristokraten zu charakterisieren, der nichts von der geistigen Kraft weiß. Jakob ringt mit dem Engel oder mit Gott und der Kampf löst seine Bewusstwerdung aus, er erkennt, dass er mit ihm um dessen Segen ringt. Die Auseinandersetzung mit dem Engel wird auch zum Thema der programmatischen Schrift Der Kampf mit dem Engel, die 1917 in der Aktion erschien:

Der stärkste Fall des taktlosen Aristokraten ist der Erzvater Jakob aus der Bibel. Er ringt mit dem Engel. Er ahnt gar nicht, daß man einem Engel so nicht gegenübertritt, und daß man das Geistige nicht „besitzen“ kann. Er gründet natürlich die typische Aristokrateninnung mit Reservatrechten. Und es paßt durchaus zu ihm, daß er seinen Aristokratismus mit einem schmierigen Linsenhandel „erwirbt“. (44)

Programmatisch für Rubiners Geist-Begriff war Heinrich Manns Essay Geist und Tat (1910), in dem Mann der französischen Revolution huldigte. Manns Prinzip des Geistes als die auslösende und ausgleichende Kraft für die Befreiung des Menschen von der Bedingtheit durch die materielle Welt, machte ihn zum Verfechter der freiheitlichen demokratischen Tradition in der Literatur. Er schrieb in seinen Essay:

Der Geist ist nichts Erhaltendes und gibt kein Vorrecht. Er zersetzt, er ist gleichmacherisch. (45)

Während der Kriegsjahre verzichtete Die Aktion auf politische Texte, um der Zensur zu entgehen, veröffentlichte nur literarische und literaturkritische Texte und wurde zum Presseorgan des Antimilitarismus. Heinrich Manns Roman Der Untertan (1914) wird von Rubiner in einer in der Aktion veröffentlichten Glosse begeistert aufgenommen. Als Förderer der Einheit von Literatur und Politik, die Rubiner 1912 in seinem Aufsatz Der Dichter greift in die Politik postuliert hatte, wies er, wie Heinrich Mann, der Literatur eine politische Funktion zu und verschärfte seine Kritik an Literaten, die sich ihrer öffentlichen Verantwortlichkeit nicht bewusst werden und sich allein ihrer künstlerischen Aufgabe verpflichtet sehen. Die Prämissen für den Umbruch der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse lagen, nach ihrer Ansicht, in der Erneuerung der Gesinnung, im Willen zur Weltänderung. Es handelt sich um eine ethische Priorität, um den ethischen Prozess der Vergeistigung, der dem politischen Vorgang einer demokratischen Revolution gleichgesetzt wird. (46)

(44) Ludwig Rubiner, Der Aristokrat, Die Aktion, 1913, S.590.

(45) Heinrich Mann, Geist und Tat, Deutscher Taschenbuchverlag, München, 1963, S.13.

(46) Klaus Petersen, Ludwig Rubiner, ibid., S.18.

Heinrich Manns Positionen, die er in seinem Essay und Roman vertrat, ließen sich als Synthese der programmatischen Ansätze Rubiners verstehen. Er nahm sowohl die theoretischen Motive der Geistkonzeption als auch die Fragen der Macht auf und integrierte sie in sein Konzept. Literaten und Künstler müssen an die Öffentlichkeit treten, sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen, um, nach dem Vorbild der französischen Revolution, bei der geistigen Vorbereitung der sozialen und politischen Umwälzung, bei der Umwandlung der machthaberischen Zustände in humane, demokratische mitzuwirken. Das Ausrichten des künstlerischen Tuns auf politische Wirksamkeit trägt dazu bei, die humanisierende Aufgabe von Literatur ins Gedächtnis zurückzurufen. Die neue Politik wird, schlussendlich, als Produkt des freien Denkens begriffen, als aus der Kraft der geistigen Macht resultierende Tat, die die herrschende despotische Macht umstürzt.

Während seines Pariser Aufenthalts verfasste Rubiner einen polemischen Aufsatz Maler bauen Barrikaden, in dem er der Kunst, wie schon zwei Jahre zuvor der Literatur, ein Gesellschaft und Politik veränderndes Potenzial zuschrieb. Die kosmopolitische französische Kulturszene ließ ihn die deutsche Kunst in keinem guten Licht erscheinen. Er berichtete über die Kunstausstellung der Freien Sezession:

Die "Freie Secession" stellt dreihundert-vierundvierzig Werke aus. Dreihundert von ihnen zeigen konzentriert die größte Schande, die der Gedanke an Deutschlands Willen, Mut und Geist je vorstellen könnte. (47)

Rubiner unterscheidet zwischen der traditionellen und der geistigen Kunst, zwischen der Kunst, die das kapitalistische System zum Stil gemacht hat, und der neuen Kunst, die mit der Vision des Künstlers die gleiche politische Botschaft der Literatur vermittelt:

Der Maler: hat diesen geistigen Raum visionär zu schaffen. Das heißt, nach der Gestaltungskraft des Auges. (48)

(47) Ludwig Rubiner, Maler bauen Barrikaden, Die Aktion, 1914, S.359.

(48) Ludwig Rubiner, ibid., S.354.

Die Aufgabe der Kunst besteht darin, das ästhetische Ideal mit dem humanen gleichzusetzen; die Künstler, wie die Dichter, sollen dazu beitragen, ein auf Mitmenschlichkeit und sozialem Verantwortungsgefühl basierenden Zusammenleben zu gestalten und Menschen vom traditionellen bürgerlichen Denksystem und dessen Moral zu lösen. Mit der Ausnahme von einigen Malern, die er als „Visionär“ bezeichnet, wie Picasso, Robert Delaunay und Oskar Kokoschka, spart er keinen aus und appelliert an die Künstler seiner Zeit im bissigen Ton:

Maler, wißt, daß ihr geistige Wesen seid, oder bleibt uns vom Halse! Ihr seid da, um mit Gabe des Auges unser Geistiges, von dem wir alle herkommen, als Raum in die Welt zu setzen. (49)

Rubiner engagierte sich für die geistige Revolution, die in seiner Vorstellung von allen Anregern des Geistes gefördert werden sollte, von Literaten, Musikern, Malern, Zeichnern, Bildhauern, die das Talent dazu haben, und die soziale Verantwortlichkeit, die Phantasie des Menschen zu wecken (50) und ihn dazu zu bringen, neue Lebensmodelle zu schaffen, sowohl individuell als auch sozial orientiert. Der Titel Maler bauen Barrikaden ist programmatisch zu verstehen, denn dem Autor geht es vor allem um die Verbindung zwischen Kunst und Politik, um ein Bollwerk gegen die Zivilisation zu bilden. Kultur ist ein weiter, gleichmäßiger Begriff, umfasst jede kreative Ausdrucksform, ohne dass eine überragt, und erfüllt eine doppelte Aufgabe: einerseits belehrt sie, setzt sie den Geist der Menschen frei, macht sie den Menschen seines Menschseins bewusst, andererseits nimmt sie die politische Aktion vorweg.

Die deutsche Kunst stand erneut im Mittelpunkt seiner Kritik: 1914 besprach Rubiner in der Aktion eine Ausstellung der Berliner Neuen Sezession in Paris mit positivem Akzent. Die „Neue Sezession“ ließ eine Neuorientierung in der deutschen Kunstszene erkennen:

Von allen deutschen Kunstgesellschaften, in denen die Absichten mehrer bestimmend sind, ist die „Neue Secession“ die einzige, die Gesinnung hat. (51)

(49) Ludwig Rubiner, ibid., S.355.

(50) Wolfgang Haug, Ludwig Rubiner. Künstler bauen Barrikaden, ibid., S.22.

(51) Ludwig Rubiner, Um die Neue Secession, Die Aktion, 1914, S.405.

Paris war für Rubiner reich an künstlerischen Anregungen und die französische Kunst war reich an großen Namen. Er erwähnt eine Reihe von Malern und Bildhauern, die in Frankreich geboren wurden oder nach Frankreich mussten: André Derain, Georges Braque, Robert Delaunay, Kees van Dongen, Pablo Picasso, die Kubisten André Lhote, Henri Le Fauconnier, Fernand Léger und Jean Metzinger, Henri Rousseau, und die Plastiker Manolo, Alexander Archipenko, Ernesto de Fiori und Wilhelm Lehmbruck. Rubiner wies auf die Rückständigkeit der deutschen Kultur gegenüber Frankreich hin:

Dies ist alles in Deutschland nicht möglich. Malerei, Skulptur, Gebilde der Unmittelbarkeit, sind nur möglich in einem Land, dessen Menschen von einem sogenannten Künstler als ursprünglichste Gaben: Mut, Willen, Unbedingtheit, Willen, Mut – fordern. (52)

Lobende Worte hatte er nur für die Maler der Neuen Secession wie Heinrich Richter-Berlin und für die Graphiker wie Karl Schmidt-Rottluff, Oskar Kokoschka und Max Oppenheimer:

Diese drei Dinge: der einzelne Mensch, der Mensch und der Raum, der Mensch und der Mensch – in dem herrlichen, aufstachelnden, allgemeinen Mittel der Graphik, das ist heute nur Deutschen möglich. (53)

(52) Ludwig Rubiner, ibid., S.408.

(53) Ludwig Rubiner, ibid., S.410.

1914 fing Rubiner an, bei den von René Schickele redigierten Weissen Blättern mitzuwirken, die zu den einflussreichsten Presseorganen des Expressionismus zählten, gegen den Militarismus und für die Völkerverständigung eintraten und, nach der Aktion, Rubiners Position und Ansichten am meisten entgegenkamen. Von 1916 bis 1917 wurden Die Weissen Blätter in Zürich herausgegeben. Schickeles Zeitschrift zeigte sich offen gegenüber der sozialen und politischen Thematik der Zeit und drängte ihre Mitarbeiter, zu jedem Gebiet des Lebens Stellung zu nehmen; das implizierte auch die Auswahl von literarischen Ausdrucksformen, die zur anschaulichen Behandlung des Zeitgeschehens dienten, wie z. B. den programmatischen Satz, das Drama und die Erzählung.

In der 1917 veröffentlichten Anthologie Der Mensch in der Mitte bündelte Rubiner systematisch Artikel und Aufsätze, die zwischen 1914 und 1917 in den Zeitschriften Die Aktion, Die Weißen Blätter und Das Ziel erschienen waren. Der Sammelband ist als ein Appell an die Menschheit zu verstehen, der den Bezug zum Menschen, d. h. den humanozentrischen Ansatz, für die neue Ära in Anspruch nimmt:

Kein Krieg hat uns daran hindern können, daß wir in die neue Zeit marschiert sind. Es ist die Zeit, die den Menschen wieder in die Mitte der Welt stellt. (54)

(54) Ludwig Rubiner, Die Bilder Else von zur Mühlens, Die Aktion, 1916, S.578.




Rubiner und die expressionistische Zeit:


der politische Aktivismus


und die Rolle des politischen Dichters

Ludwig Rubiner zählt zu den am wenigsten bekannten Autoren der literarischen Bewegung des Expressionismus. Seine Wirkenszeit erstreckt sich von 1904 bis zu seinem Tod 1920. In dieser Zeit tritt er als Kultur- und Sozialkritiker in die Öffentlichkeit - mit programmatischen Texten, Manifesten, Appellen an die Menschheit - als Dramatiker, als Lyriker und als Herausgeber einer pazifistischen Zeitschrift und von drei Sammlungen. Mit seiner sozialutopischen Anschauung wurde er zum Verfechter eines humanistischen Sozialismus und zum Fürsprecher einer Generation von Literaten, die sich für die geistig-moralische Erneuerung der Menschen einsetzten. Das Schweigen um Rubiner rührt hauptsächlich von seiner Wesensart her, von seiner zurückgezogenen Haltung:

Ludwig Rubiner wünscht keine Biographie von sich. Er glaubt, daß nicht nur die Aufzählung von Taten, sondern auch die von Werken und von Daten aus einem hochmütigen Vergangenheits-Irrtum des individualistischen Schlafrock-Künstlertums stammt. Er ist der Überzeugung, daß von Belang für die Gegenwart und die Zukunft nur die anonyme, schöpferische Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist. (55)

Sowohl in den Schriften als auch in den Briefen gibt er wenig Aufschluss über seine Biographie, er bleibt anonym und, im Sinne dieser Anonymität, stellt sein literarisches Wirken das beste biographische Zeugnis dar. Die Abstraktheit seiner Formulierungen und seiner philosophischen Reflexionen bewirken, dass er zum Mitdenken zwingt und sich schwer in vorgegebene Kategorien einordnen lässt. Der Hauptvorwurf, als Scheinrevolutionäre hervorzutreten, den marxistische Kritiker wie Lukács (56) gegen Aktivisten wie Rubiner machen, unterliegt einer politischen Abwägung der expressionistischen Bewegung: ihr Aktivismus beziehe sich nicht auf konkrete Tatbestände, sondern auf ein utopisches Ideal, ihr antibürgerlicher Protest habe keine politischen Auswirkungen und zeige keine Alternative zum kapitalistischen System.

(55) Kurt Pinthus, Menschheitsdämmerung, Rowohlt, Hamburg, 1959, S.357.

(56) Georg Lukács, Größe und Verfall des Expressionismus, in Paul Raabe, Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung, Arche, Zürich, 1987, S.260.

Rubiner war ein rastloser, vielseitiger Intellektueller mit Interesse an den unterschiedlichsten Themen und Autoren. Als Kulturkritiker hat er das deutsche sowie das ausländische Kulturleben aufs Korn genommen; er hat als engagierter Übersetzer von französischen und russischen Klassikern und Herausgeber gearbeitet, seine Lyrik zeigt den starken Einfluss des amerikanischen Dichters Walt Whitman. Er bekennt sich mit seinen literarischen Schriften zum Aktivismus, deren Leitmotiv das Eingreifen der Dichter und Künstler in die Politik ist, und damit bezieht er Stellung gegen die wilhelminische Gesellschaft zur Zeit des ersten Weltkrieges. Sein programmatischer Aufsatz Der Dichter greift in die Politik (1912) ist sein berühmtester Text, mit dem er die Bestrebungen einer Generation junger Autoren erfüllte (57) und ihnen eine Stimme verlieh. Die Schrift stellt die offizielle Aufforderung an die Kulturschaffenden zum Handeln dar. Rubiners politisches Engagement drückt sich öffentlich mit großer Emphase in diesem Text aus, seine theoretische Vorbereitung geht aber auf seine Studentenzeit zurück, wie Wilhelm Herzog, Rubiners Studienkollege und Herausgeber der Zeitschrift Das Forum, berichtet:

Wonach wir uns sehnten, als wir Studenten waren, das war: die Verwandlung unserer Ideen in die Wirklichkeit. Wir wollten erzwingen, daß die selbstverständlichsten menschlichen Forderungen endlich erfüllt würden: auf sozialem, wirtschaftlichem, politischem, kulturellen Gebiet. (58)

(57) Franz Jung, Der Weg nach unten, Luchterhand, Neuwied, 1961, S.86.

(58) Wilhelm Herzog, Dem toten Kameraden Ludwig Rubiner, Das Forum, 1920, S.474.

Zusammen mit Persönlichkeiten wie Wilhelm Herzog, Heinrich Mann, René Schickele, Franz Blei und Ferdinand Hardekopf zählte Rubiner zu einem bürgerlich-demokratischen Literaturkreis, der während des Kaiserreiches publizistisch aktiv wurde und dessen politische Orientierung einen starken Zusammenhang zur liberalen Tradition Frankreichs, zu den Revolutionären und deren Ideen aufweist. In Paris wo sich Rubiner 1907 und 1912 mit seinem Freund aus der Universitätszeit Carl Einstein aufhält, kommt er in Berührung mit einem avantgardistischen literarischen und künstlerischen Umfeld und kann dadurch seine kritische Einstellung gegenüber der deutschen Kultur und deren Vertreter vorantreiben, die er als nicht kameradschaftlich abstempelt. Rubiners Interesse an Frankreich zeigt sich weiter im literarischen Bereich, als er 1919 zusammen mit seiner Frau die Romane und Erzählungen Voltaires übersetzt. Voltaire galt ihm als Vorbild für einen Rebell im Geiste, der „als Grundhebel zur Rebellion der Welt, als letzter Sprengstoff des Geistes“ (59), die Formel des Verstandes und die Idee der Toleranz zum Einsatz bringt. Er schreibt in der Einleitung seiner Ausgabe:

Der Mensch, aus dessen Händen das geistige, öffentliche und politische Leben Europas vor der französischen Revolution von 1789 über lange Strecken hin entscheidende Ideen und Antriebe empfing, hieß Francois Marie Arouet. Er wirkte unter dem Namen Voltaire, und dies ist eine Buchstabenversetzung von „Arouet l.j.“ (le jeune). (60)

(59) Ludwig Rubiner, Der Dichter Voltaire, Die Weissen Blätter, 1919, S.12.

(60) Ludwig Rubiner, Voltaire in Wolfgang Haug, Ludwig Rubiner, ibid., S.199.

Berlin war vor dem ersten Weltkrieg sowohl wirtschaftlich als auch kulturell sehr lebendig. Der rasche Aufbau in der Gründerzeit am Ende des 19. Jahrhunderts hatte zu einer stürmischen Expansion der Industrie und der Urbanisierung geführt, sodass Berlin die größte deutsche Industriestadt wurde. Die deutsche Hauptstadt galt als Sammelbecken und Sprungbrett für junge Künstler unterschiedlicher Herkunft, die den Drang nach sozialer und politischer Änderung verspürten und sich in literarischen Cafés, wie im Café des Westens am Kurfürstendamm, zum Mitreden und zum Entwurf neuer Konzepte trafen. Als Zentrum der expressionistischen Literaturbewegung, entwickelte sich Berlin als Gegenpol zur traditionellen Kunst und Literatur: die Expressionisten beabsichtigten, abseits des Etablierten neue Wege zu beschreiten, so wurden eigene Zeitschriften das wichtigste Forum für die Vermittlung von neuen Ideen, für die öffentliche Diskussion zum Zeitgeschehen und für die Schaffung eines kameradschaftlichen Zusammenhalts unter Gleichgesinnten. Die zwei repräsentativen Zeitschriften des Expressionismus Der Sturm und Die Aktion, die als bahnbrechende Wegbereiter in der Publizistik der Zeit gelten, wurden in Berlin herausgegeben und im Café des Westens konzipiert. Seit 1910 war Rubiner ihnen als Kultur- und Sozialkritiker eng verbunden gewesen.

Die expressionistischen Autoren fühlten sich an einem Wendepunkt angelangt, weil die rasend schnelle Hochindustrialisierung in den Jahren des Kaiserreiches (1890-1918) eine geistige und soziale Krise mit sich brachte, die ihnen die geistig-kulturelle Erneuerung des Menschen als die absolute Priorität erscheinen lässt. Die Forderung nach moralischem Handeln, die sie programmatisch zum Ausdruck brachten und mit so großem Nachdruck propagierten, war zugleich ihre individuelle Art – eher anarchistisch als politisch-ideologisch orientiert - sich dem Wilhelminismus und dessen restriktiver Moral mit seinen patriarchalen Strukturen zu widersetzen. Rubiner erwähnt den Vertreter des Individualanarchismus, Max Stirner, in seinem 1913 in der Aktion erschienenen Aufsatz Brief an einen Aufrührer, der ihm als „der gedrängteste Bauherr des Bewußtseins vom Aufruhr“ (61) erscheint. Von Stirner übernimmt er die Grundannahme seines aktivistischen Konzepts: die Befreiung des Menschen aus den zivilisatorischen Zwängen und aus der repressiven Moral. Stirner bringt ihm das umwälzende Gedankengut näher, das niemals die Gewalt als Kampfmittel unterstützt.

(61) Ludwig Rubiner, Brief an einen Aufrührer, in Der Mensch in der Mitte, ibid., S.44.

1912 widmet sich Rubiner der Sozialkritik, betont die zentrale Rolle des politischen Dichters, der sich als Verkünder eines neuen Zeitalters und einer neuen Moral in der Politik versteht, und setzt sich für eine Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Kraft der ethischen Handlung ein. Er findet in der Aktion die Gelegenheit zu wirksamen politisch-kulturellen Argumentationen und fühlt sich mit dem Herausgeber, Franz Pfemfert, geistig eng verwandt, in dessen Zeitschrift die Prinzipien einer freiheitlichen Bewegung gegen nationalistische Hetze aufgestellt werden. Die Aktion trägt zur Verbreitung der anarchistischen Ideen der Russen Bakunin und Kropotkin und des Franzosen Proudhon bei. Rubiners Mitarbeit an der Aktion war von Dauer, von 1912 bis 1918, und seine Veröffentlichungen waren von starker öffentlicher Wirkung. So lautet seine eigene Bezeichnung für die Politik im programmatischen Aufsatz Der Dichter greift in die Politik:

Politik ist die Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten. Und wenn es irgendwo eine Wahrheit gäbe, die beweisen liesse, dass unsere sittliche Absicht keine sittliche Pflicht ist – so sind noch hunderttausend Menschen da und bereit, sie für eine sittliche Pflicht zu halten. Das ist ausschlaggebend. (62)

In dieser Aussage spiegelt sich sein praktisches und theoretisches Verständnis des engagierten Begriffs politisch-sozialer Aktivismus wider, der eher die Gesinnung als treibende Kraft der ethischen Handlung definiert. Der Aktivismus verweist auf eine Gruppe junger Autoren mit sozialistisch-pazifistischer Tendenz, die, innerhalb der expressionistischen Bewegung in der Zeitspanne von 1915 bis 1920, auf eine Aktivierung des Geistigen zur Herbeiführung eines neuen Zeitalters abzielten. Diese Auffassung ruht auf der Ablehnung eines materialistischen Welt- und Menschbildes und auf der Annahme, Realität sei eine geistige Realität. Wie der ganze Raum für den expressionistischen Künstler eine Vision wird, so tritt für den Literaten das seelische, innere Leben des Menschen in den Vordergrund. Die „Initialzündung“ (63) des Aktivismus war Heinrich Manns Essay Geist und Tat, der im von Wilhelm Herzog redigierten Pan erschien.

Kurt Hiller galt als der führende Kopf des Aktivismus und als prägend für die Entwicklung neuer kritischer Denkansätze. Die Dichtung hatte für ihn nur eine Aufgabe, die sich als politisch aktiv versteht: die Veränderung der Welt, und er sieht, in diesem Sinne, die Rolle des Dichters als Erwecker der positiven, sittlichen Kräfte der Menschen. Dieser Begriff wird auch von Gustav Landauer in seinem Aufruf zum Sozialismus (1911) betont:

Wir Dichter wollen im Lebendigen schaffen, und wollen sehen, wer der größere und stärkere Praktiker ist, […] und die Menschen, die mit uns sind, sammeln zu einem Keil, der vorwärts dringt, immer weiter im Tun, im Bauen, im Wegräumen. (64)

(62) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, Die Aktion, 1912, S.645.

(63) Wolfgang Rothe, Der Aktivismus 1915-1920, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1969, S.7.

(64) Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1967, S.86.

Kurt Hiller war Mitarbeiter beim Demokrat, dem Sturm, und der Aktion und ab 1915 Herausgeber der Zeitschrift Das Ziel, ein geistiger Sammelpunkt der aktivistischen Appelle, in dem Rubiner 1916 sein Manifest Die Änderung der Welt veröffentlichte. 1909 gründete Hiller in Berlin gemeinsam mit den Dichtern Georg Heym und Jakob van Hoddis den Zusammenschluss von Studenten und jungen Künstlern Der Neue Club, der Vortrags- und Lesungsabende im Dienst der neuen Dichtung - mit ihrer Großstadtthematik und ihren Weltuntergangsvisionen - unter dem Namen Neopathetisches Cabaret veranstaltete. Der Neue Club galt als der Grundstein des Frühexpressionismus.

Die Zeitschriften, die die expressionistischen Autoren zur Veröffentlichung ihrer Manifeste und Gedichte wählten, und die literarischen Gruppierungen und Dichterzirkel, die sie ins Leben riefen, zeigen nicht nur, in welcher politischen Stellung sie sich befanden, sondern bringen auch ihre Kritik der Zivilisation zum Ausdruck, jeder Form der Konditionierung des Menschen durch Vorurteile und Traditionen, und durch technische, kulturelle, soziale Einrichtungen, die sich die Gesellschaft gibt und als Grundsteine des menschlichen Zusammenlebens anerkannt werden. Die Zivilisation macht die Menschen zu isolierten Wesen, nimmt ihnen ihre Entscheidungsfreiheit und unterbindet ihre Kreativität. 1912 schreibt Rubiner in der Aktion:

Es gilt zu überzeugen, daß ein Jahrhundert, dessen Aufgabe war, uns Eßnäpfe, Einheitsstiefel, Wagnerpartituren herzustellen, nicht mehr als ein Hindernis für den Geist besteht. (65)

(65) Ludwig Rubiner, Die Anonymen, Die Aktion, 1912, S.300.

Der Begriff Aktivismus steht zu einem für eine sozialpolitisch engagierte Richtung des Expressionismus, zum anderen bezeichnet er im europäischen Rahmen der humanistischen und aufklärerischen Tradition ein demokratisches Ideal, eine vitalistische Lebensbejahung, die beabsichtigte, den historischen Prozess umzukehren und den Aufbau eines Rechtsstaates einzuleiten. Rubiners Unbehagen an jeder dogmatischen Denkweise und seine von Hegel und von der Kabbalistik inspirierten philosophischen Ausrichtung verklären die aktivistische Einstellung mit mystischen Zügen: der Aktivist ist der Lichtmensch (66), der das politische Programm als erlösende Mission aus der dynamischen Kraft seines Geistes realisiert. Rubiners Konzeption des Aktivismus geht davon aus, dass der Geist die Triebkraft der menschlichen Handlungen darstellt und kann als apolitisch gesehen werden, als abstrakter Enthusiasmus (67), dessen Verwirklichung sehr vage bleibt und auch als Zeichen der Desillusion einer ganzen Generation interpretiert werden kann. Die Gemeinschaft ist letztendlich das eigentliche Ziel der Handlung, für die der Mensch die Intensität seines Empfindens und das Wissen um den sittlichen Wert des eigenen Verhaltens und Tuns einsetzt, wie Rubiner in seinem Drama Die Gewaltlosen geschildert hat.

Die revolutionäre Tragweite Rubiners aktivistischer Formel wird in seinen Schriften und vor allem im historischen Kontext, in dem sie verfasst wurden, deutlich. In einem Zeitalter, in dem das äußere Geschehen des ersten Weltkrieges in all seiner Gewalt ausbricht, behauptet er die Absolutheit des inneren Erlebnisses, der geistigen Werte, die einzigen, die zur Erneuerung des Menschen beitragen:

Wir können unsere Ideen im Leben außer uns wirkend machen, als seien sie reale Organismen. (68)

Diese Aussage kann als Leitspruch seines Aktivismus betrachtet werden, dem eine idealistisch-religiös geprägte Wertethik zugeordnet ist und ihn als „die entschiedene Konzentration auf das Ethische“ (69) kennzeichnet. Die Revolution, die Rubiner herbeiwünscht und sich als Alternative zum Krieg vorstellt, trägt utopisch-messianische Züge und stellt die Verwirklichung eines göttlichen Plans der Schöpfung dar, eine erneuerte Gesinnung für die Erde, die Rubiner mit seinem Neologismus Erdballgesinnung (70) beschreibt. Er macht sich das anarchistische Prinzip der Auflehnung gegen herrschende Strukturen zu eigen, er übernimmt dessen Idee des Kampfes, aber betraut den politischen Dichter mit der Mission, ethische Werte zu vermitteln, Menschen aufzurütteln und sie zum Nachdenken zwingen.

(66) Werner Dürrson, Es ist nicht mehr Zeit, zu betrachten. Zum Werk des Expressionisten Ludwig Rubiner, in Kürbiskern, 1983, S.102.

(67) Bożena Chołuj, Vom abstrakten zum konkreten Enthusiasmus, in Melancholie und Enthusiasmus, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, 1988, S.183.

(68) Ludwig Rubiner, Zur Krise des geistigen Lebens, in Wolfgang Haug, ibid., S.126.

(69) Ludwig Rubiner, ibid., S.125.

(70) Ludwig Rubiner, Nach Friedensschluss, Zeit-Echo, 1917, Juniheft, S.5.

Am 22. Mai und am 5. Juni 1912 veröffentlichte er in zwei Teilen in der Aktion den in Paris verfassten programmatischen Aufsatz Der Dichter greift in die Politik, der als seine offizielle Anerkennung als Sozialkritiker galt. Der Titel weist auf die Behandlung von drei Themen hin: der Dichter, seine Handlungsweise und die Politik. Politik steht für Rubiner für „die Veröffentlichung unserer sittlichen Absichten“, eine Aussage, die das Engagement und den Willen des Menschen als eine ethische Frage voraussetzt, und der Dichter, der über die Grenze der Literatur und des ästhetischen Kanon hinausgeht, setzt sich für die Politik ein, wird zum Verkünder der aus der Moral entstehenden neuen Politik.

Der von Rubiner gemeinte politische Dichter hat in der Person des deutschen Schriftstellers und Theaterkritikers Alfred Kerr ein Vorbild, dessen gesellschaftlich und politisch engagierte Literaturkonzeption mit der Rubiners übereinstimmt. In seiner Antwort auf die von Pfemfert durchgeführte Umfrage Was bedeutet Alfred Kerr für die zeitgenössische Literatur? (1911) würdigt Rubiner Alfred Kerr, weil sein pathetischer und aggressiver Stil „die sittliche Kraft der Destruktiven“ (71) ausdrückt. (72) Der als Vorbild dienende Literat wird zum politischen Dichter, weil er die Sprache als Mittel der Provokation benutzt und das kühne Vorhaben hat, sie öffentlich einzusetzen:

Wir lieben diesen politischen Dichter so, weil er es nicht aushalten kann. Wir waren noch Schuljungen, da hat uns dieser Europäer gelehrt, daß man nicht zu warten braucht. Und daß "Geduld, alles wird sich schon entwickeln", eine Stammtischparole ist. (73)

(71) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.649.

(72) Klaus Petersen, Ludwig Rubienr, ibid., S.21

(73) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.648.

Zentralpunkt des Aufsatzes ist das neue Konzept des Politischen und dessen Ausführer, das sich dem alten wilhelminischen widersetzt und sich als Fortschritt verkünden lässt. Der Dichter soll, wie der Politiker, praktisch vorangehen, öffentlich auftreten, und dafür sorgen, dass die ethischen Werte, die er vertritt, zur Verwirklichung politischer Ziele eingesetzt werden. Der Dichter ist dazu bestimmt, sowohl die Gesellschaft als auch die Menschen moralisch zu erneuern:

Ich weiß, daß es nur ein sittliches Lebensziel gibt: Intensität, Feuerschweife der Intensität, ihr Bersten, Aufsplittern, ihre Sprengungen. (74)

Die menschliche Erneuerung geschieht durch die explosive Kraft der Ideen. Diese Moral der Katastrophe (75) weist dem Geist die Aufgabe zu, einen Störungs-und Zerstörungsprozess in Gang zu setzen, um Menschen aus ihrer Lethargie zu reißen. Der Katastrophenwahn, der aus diesen und den nachstehenden Zeilen spricht, richtet sich für Rubiner gegen die Zivilisation und deren materialistisches Weltbild, und gegen den Mythos der Erfahrung, die Menschen immobilisieren und sie im Erreichten stecken bleiben lässt. Mit der Metapher aus der Natur wird die moderne technologische und politische Zivilisation weiter beschrieben: der Autor verwendet das Substantiv „Erdkruste“, welches er in Verbindung mit Härte bringt, aus deren Zerstörung die ursprüngliche Essenz des Menschen entsteht, der Geist:

Ich kenne die Kanonaden der Erdkruste, Staub zerfliegt, alte Dreckschalen werden durch-schlagen, heraus siedet das Feuerzischen des Geistes. Ich weiß, daß es keine Entwicklung gibt. Ich weiß, daß das Anhäufen von Massen nicht die Motive dieses Anhäufens (im Menschen) ändert. (76)

(74) Ludwig Rubiner, ibid., S.645.

(75) Klaus Petersen, ibid., S.17.

(76) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.645-646.

Die einzige soziale Klasse, die dazu fähig ist, diese Revolte zu bewirken, scheint eine Ungesellschaft (77) zu sein, die antibürgerliche, bohèmehaft-proletarische Züge trägt, wie Rubiner mit dieser Auflistung von allgemeinen Kategorien provokatorisch anmutet:

Wer sind die Kameraden? Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Sammler von verlorenen Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfrasse, Pennbrüder, Einbrecher, Erpresser, Kritiker, Schlafsüchtige. Gesindel. Und für Momente alle Frauen der Welt. Wir sind Auswurf, der Abhub, die Verachtung. Wir sind die Arbeitslosen, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen. (78)

Kurz vor dem Kriegsausbruch, inmitten aller Unsicherheit und Veränderung, stellt der von Rubiner herbeigewünschte politische Dichter einen festen Bezugspunkt ewiger Wahrheit dar. Rubiner prägt kein propagandistisches Schlagwort, stellt kein politisches Programm vor, sondern er macht bekannt, dass der Dichter, in diesem Zeitalter, vor einer pädagogischen Herausforderung steht und als Prophet berufen ist, für die Menschen zu sprechen, sie aus ihrer Isolation zu erlösen, um anschließend direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken und sie zu verändern.

(77) Franz Norbert Mennemeier, Modernes Deutsches Drama, Wilhelm Fink, München, 1973, S.20.

(78) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.647.




Die journalistische Erfahrung in der Leitung


des „Zeit-Echo“

Als der erste Weltkrieg ausbrach, schloss Rubiner sich nicht der patriotischen Euphorie an, verweigerte sich dem Krieg und siedelte mit seiner Frau in die Schweiz über, wo er bis 1918 blieb. Im Exil verfasste er das Drama Die Gewaltlosen und gründete die Zeitschrift Zeit-Echo, die er von 1917 bis 1918 herausgab. Seine letzte publizistische Mitwirkung bei der von René Schickele herausgegebenen pazifistischen Zeitschrift Die Weißen Blätter ließ keinen Zweifel aufkommen, welche Stellung er zur Frage des Militarismus einnahm.

Seit Ende Mai 1915 war Rubiner in Zürich. Hugo Ball vermerkte in sein Tagebuch:

L. R. ist auch da. Soeben angekommen, traf ich ihn mit seiner Frau beim Café Terrasse. (79)

Das Schweizer Exil war für Rubiner keine Erfahrung der Isolation und Entfremdung; weder seine Werke noch seine Briefe geben Aufschluss über Heimatverlust oder eine emotionale Bindung an Deutschland oder an seine Geburtsstadt Berlin. (80) 1903 wirkte er mit Paul Scheerbart und Erich Mühsam an der Gründung der Tagezeitung Das Vaterland mit, „womit jene weitere Heimat gemeint war, die keine Grenzen hat und den ganzen Kosmos umfaßt“. (81)

Zahlreiche Reisen durch Europa und die Kontakte zu Künstlern und Intellektuellen der Pariser Avantgarde während seines Aufenthaltes in Paris 1912 prägten zweifellos seine kosmopolitische Gesinnung und seine Vorstellung von Heimat als exterritorialem Raum außerhalb aller geographischen und historischen Grenzen.

(79) Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Joseph Stocker, Luzern, 1946, S.23.

(80) Klaus Petersen, Ludwig Rubiner, ibid., S.24.

(81) Erich Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, Nautilus Verlag, Hamburg, 1999, S.62.

1913 veröffentlichte Rubiner in Die Aktion das Gedicht Mein Haus und erklärte damit, wie er die Welt als universelle Heimat begriff:

Um mein Haus sind Strassen, Kreise von Brunnen. Plakatsäulen. Gemüseläden. Uhrmacher mit Schmuck. Finstere Brunnen. Plakatsäulen. Polizisten stehn vor Theatern. Die Untergrundbahn stürzt in ihren Köcher. Weisse Kellner mit Tassen. Zeitungsjungen laufen. Kutscher reden zu Gäulen. Unter der Brücke fahren Dampfer durch gemalte Lampen. (82)

Es handelt sich nicht um einen Hinweis auf eine staatenlose Identität, sondern es geht vielmehr um eine zur Lebensnorm gewordenen Weltauffassung, die für das expressionistische philosophische Menschenbild charakteristisch ist; eine Auffassung, die die Freiheit des Menschen von jeglichen Konventionen, seine Befreiung von jeder materiellen Bindung und seine geistige Evolution betont.

In der Schweiz bildete sich ein Kreis pazifistisch und sozialistisch gesinnter Intellektueller und Künstler, die - als Gegenpol zum Krieg - den Meinungsaustausch förderten und Kontakte unter den Kriegsgegnern pflegten (83). Dazu gehörten: Ferdinand Hardekopf, Albert Ehrenstein, Leonhard Frank, René Schickele, Ludwig Berndl, Iwan und Claire Goll, Vera und Charlot Strasser, Stefan Zweig, Fritz von Unruh, Klabund (Alfred Henschke), der Berliner Verleger Paul Cassirer, Hans Richter, Christian Schad, Arthur Segal, Hans Arp, Otto van Rees, Franz Werfel und Ferruccio Busoni, zu dem Rubiner eine enge Freundschaft und eine langjährige Beziehung pflegte. Rubiner gehörte auch zusammen mit Leonhard Frank, René Schickele und Iwan Goll zu Busonis Züricher Kreis.

(82) Ludwig Rubiner, Mein Haus, Die Aktion, 1913, S.350.

(83) Ahmet Arslan, Das Exil vor dem Exil, ibid., S.44.

Im Exil war Rubiner literarisch sehr aktiv und rief das Zeit-Echo mit dem Ziel der Völkerverbrüderung ins Leben, um pazifistische und sozialistische Auffassungen zu verbreiten. Er pflegte regen Kontakt sowohl mit deutschen Intellektuellen als auch mit französischen Literaten wie Henri Guilbeaux, dem Genfer Herausgeber der Antikriegszeitung Demain, Romain Rolland, der 1914 im Journal de Genève den kriegskritischen Artikel Au-dessus de la mêlée veröffentlichte und Jean Pierre Jouve, der sich der pazifistischen Bewegung um Romain Rolland anschloss. Romain Rolland erinnerte sich in seinen Aufzeichnungen (84) daran, wie stark Rubiner sich für sie in seiner Zeitschrift einsetzte, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihr antimilitaristisches Engagement zu lenken.

Rubiner vertrat die Ideale des Pazifismus und der Völkerverständigung mit Vehemenz und prophetischem Eifer. Er war ein unnachgiebiger Beobachter der Wirklichkeit und seine beinahe fanatische Konzentration auf das Wesentliche brachte einige seiner Freunde dazu, sich von ihm zu distanzieren. Ferdinand Hardekopf verzichtete auf die Mitarbeit am Zeit-Echo und René Schickele publizierte Rubiners Zeitschrift nur für kurze Zeit. Rubiner stand im zwiespältigen Verhältnis zu den Dadaisten, die in der Zeit in Zürich tätig waren: er teilte ihre gesellschaftskritische Haltung und ihren Antimilitarismus, er kritisierte aber, dass sie stets die kritische Diskussion auf das künstlerische Gebiet eingrenzten. Ihre Einstellung widersprach daher dem utopisch-aktivistischen Glauben Rubiners, für den Dichter und Künstler als Agitatoren zur Umgestaltung der Gesellschaft auftreten mussten.

In der Schweiz blieb Rubiner im engen Kontakt zu Franz Pfemfert: während des Krieges fiel Die Aktion der Zensur zum Opfer wegen Verstoß gegen die Sittlichkeit. In der Rubrik Ich schneide die Zeit aus setzte er aber seine Kritik des Militarismus in abgeschwächter Form fort, um ein komplettes Verbot zu verhindern. Pfemfert blieb der Ansicht, dass Kunst und Literatur für die Politik eintreten mussten. 1917 veröffentlichte Rubiner im Zeit-Echo den Artikel Pfemferts Es ist nichts geschehen, der in seiner Zeitschrift Die Aktion am 30. Oktober 1912 erschien. Pfemfert berichtete über die antimilitaristische Demonstration der Sozialdemokratie in Berlin und beklagte sich über das mangelnde Engagement sowohl der Arbeiterpartei als auch des liberalen Bürgertums, um den Kriegsgefahren zu entgehen. Auf den Artikel Pfemferts folgte eine Nachschrift Rubiners, in der er Die Aktion als Arche des Geistigen „gegen bedrängende Kriegsmächte“ (85) würdigte. Als Herausgeber orientierte sich Rubiner am Vorhaben Pfemferts, der im Zeit-Echo einen geistigen Verbündeten sah.

(84) Romain Rolland, Zwischen den Völkern. Aufzeichnungen und Dokumente aus den Jahren 1914-1919, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1955, 2 Bd., S.511.

(85) Ludwig Rubiner, Nachschrift von Franz Pfemfert, Es ist nichts geshehen, Zeit-Echo, 1917, Juliheft, S.9.

Als Kriegstagebuch der Künstler wurde das Zeit-Echo ab 1914 in München von Otto Haas-Heye herausgegeben und es war keine politische Zeitschrift: jeder Schriftsteller und Künstler konnte Raum für sowohl pazifistische als auch patriotische Beiträge erhalten. 1915 übernahm Hans Siemsen die Herausgabe und verwandelte das Kriegstagebuch in ein pazifistisches Presseorgan. Rubiner leitete Zeit-Echo in den vier Heften von 1917 (Mai bis September) in Zusammenarbeit mit Albert Ehrenstein und dem Graphiker Hans Richter, der die Zeitschrift illustrierte. Der Erscheinungsort wurde nach Zürich verlegt, um der Zensur zu entgehen. Zeit-Echo wurde zur Exilzeitschrift gegen den Krieg und beabsichtigte, zum Mitmenschentum im Sinne ihres Herausgebers zu animieren.

Im Maiheft sind programmatische Beiträge von Rubiner selbst verfasst, in den weiteren drei Heften sind Beiträge von Alfred Döblin, Leonhard Frank, Hans Siemsen, Claire Studer, Iwan Goll, Theodor Tagger, Otto Freundlich, Alfred Wolfenstein, Hans Richter, Frida Ichak, Hans Kelso, Erwin Lewin-Dorsch, Rudolf Leonhard, Albert Ehrenstein, Carl Sternheim und Tolstoi aufgenommen. Zu den Mitwirkenden der Zeitschrift gehörten Schriftsteller und Künstler, die die aktivistische Auffassung des Herausgebers teilten und die literarische Form der Manifeste, Appelle und Aufrufe wählten, weil solche Texte produktiv zur gesellschaftlichen Diskussion und zur kollektiven Klärung beitrugen. Jedes Heft beinhaltete vier bis fünf Artikel, kurze Gedichte und die Rubrik Menschen, Bücher, Zeitschriften, in der Rubiner Rezensionen und Polemiken, auch von ihm selber verfasst, zusammenstellte. Der Ton dieser Polemiken ist erbitterter als in den Artikeln. Nach dem Beispiel von Pfemfert fügte Rubiner eine Rubrik mit dem bedeutenden Namen Dokumente des Irrsinns ein, die Artikel der militaristischen Presse enthielt.

Die programmatische Absichtserklärung der Zeitschrift lautet:

Die Zeitschrift ist keine bibliophile, sondern eine moralische Angelegenheit. - Nicht aufgenommen werden Werke irgendeiner Unterhaltungsabsicht, beschreibende Zeichnungen, Gedichte, Novellen und Betrachtungen, die allein der Erklärung und der Bildung dienen. Zur Veröffentlichung zugelassen sind nur fordernde Formulierungen von europäischer Gesinnung. (86)

Diese Aufforderung ist Ausdruck der intellektuellen Entwicklung des Autors, für den nicht nur die Intensität des Aufbegehrens gegen die wilhelminische Gesellschaft im Vordergrund steht, sondern auch die europäische Gesinnung. An dieser Stelle schlägt seine ethisch begründete aktivistische Haltung in eine europäische Grundeinstellung um, mit dem Ziel, die interkulturellen Beziehungen zwischen den Völkern Europas zu stärken. Die Bekanntschaft mit den französischen Intellektuellen hat entscheidend zu dieser Auffassung beigetragen. Mit diesen im Aufsatz Europäische Gesellschaft enthaltenen Slogans L'homme pour l'homme, der Mensch für den Menschen, Erdballgesinnung und Das junge Europa (87) fasst Rubiner seine Position zur europäischen Verständigung zusammen.

Die Wortneuschöpfung – Erdballgesinnung - geht, dem Autor nach, über den Internationalismus und Kosmopolitismus hinaus, weil sie ethische Verpflichtungen des Menschen sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber den anderen mit einbezieht. Der Neologismus setzt den Bund aller Geistmenschen der Erde voraus. Der Nährboden für die Anschauung Rubiners eines demokratischen Europas der Völker liegt auch in den demokratischen und republikanischen Ideen, die sich im 19. Jahrhundert in Europa verbreiteten. Er nimmt Bezug auf den Geheimbund Junges Europa, der 1834 von Giuseppe Mazzini in Bern ins Leben gerufen wurde und die Einzelgruppierungen Junges Italien, Junges Deutschland und Junges Polen zusammenschloss. Rubiner strebte einen zukünftigen Ideenstaat (88) an und schritt visionär mit dem Ausrufen der Vereinigten Staaten Europas voran.

(86) Ludwig Rubiner, Programm, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.24.

(87) Ludwig Rubiner, Europäische Gesellschaft, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.7-9.

(88) Ludwig Rubiner, Europäische Gesellschaft, ibid., S.9.

Rubiner verwendet propagandistische Schlagworte, die auch dazu beitragen, die angestrebte Prägnanz und Kürze literarisch zu erreichen. Die Syntax wird teilweise bis zum völligen Weglassen von Satzkonstruktionen reduziert und die Aussagen sind im Stil von telegraphischen Meldungen, wie z. B.:

Wir dürfen nie wieder vergessen. Bund der Geistmenschen. Neuschaffung der Welt aus dem Wissen in Wirklichkeit. Die neue Wirklichkeit. Aus der Nationalität zum Erdballmenschen. Aufruf an die Verzweifelten. Aufruf an die noch Lebenden. Aufruf an die Geretteten. (89)

Die Verteidigung der menschlichen Freiheit und des Geistes des Menschen ist im Ton eines politischen Appells angekündigt:

Aber der Geist kann nicht vernichtet werden. Immer wieder richtet er sich weithin sichtbar auf in Einzelnen und in kleinen Gruppen, den Frühen, den inspirierten Eingeweihten der menschlichen Freiheit, jenen die nie Vergleiche mit der Macht des Ungeistes schlossen, und die, märtyrerhaft geschmäht und verfolgt, noch im qualvollsten Tode verkündeten, dass sie Söhne der Idee waren. (90)

Die Glosse Der ehrliche Gegner eröffnet die Rubrik Menschen, Bücher, Zeitschriften des Maiheftes. Als Literaturkritiker besprach Rubiner mit der Kritik Blätter für die Kunst die Literaturzeitschrift, die 1892 von Stefan George gegründet und herausgegeben wurde. Die Rezension wurde durch die kriegskritische Artikelserie Rollands Au-dessus de la mêlée inspiriert, die Rubiner Menschlichkeitsbuch (91) nennt. Das Werk Rollands diente als Beispiel von Kriegsgegnerschaft, Rubiner teilte mit ihm die scharfe Kritik am Militarismus und sein Engagement am Werk der Menschheit, des Friedens und der Kulturvermittlung.

(89) Ludwig Rubiner, Neuer Inhalt, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.4.

(90) Ludwig Rubiner, Mitmensch, Zeit-Echo, 1917, Maiheft. Nachdruck: Das Ziel, 1918, S.346-347.

(91) Ludwig Rubiner, Blätter für die Kunst, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.14.

Rubiner rezensierte die Erzählung Carl Sternheims Meta (1916), die Geschichte eines Dienstmädchens, das ihren Ehemann im Krieg verlor und zur Revolutionärin eines Altfrauenhauses wurde. Ihr Name spielte auf die innere Metamorphose der Protagonistin an und weder ihre soziale Herkunft noch ihr seelischer Zustand hinderten sie daran, ihren Willen frei zu entfalten. Rubiner nennt Schriftsteller wie Sternheim und Leonhard Frank, dessen Erzählung Der Kellner (1916) er besprach, als Beispiele des Politeraten (92), die die Sprache als politische Waffe einsetzten. Auch in der Erzählung Franks hat der Protagonist eine definierte soziale Rolle, verlor seinen Sohn im Krieg, erlebte eine Wandlung vom Kellner zum Führer der Friedensrevolution. Zu der Schar der Politeraten gehören auch Walter Hasenclever und Paul Adler, dessen dichterisches Werk Elohim (1914) Rubiner 1916 in der Aktion besprach. Im Exil schrieb er weiterhin für die Weissen Blätter eine Rezension über den Aufsatz Theodor Däublers Lucidarium in arte musicae (1916) und für die Aktion eine Würdigung an Alfred Wolfensteins erstes Gedichtbuch Die gottlosen Jahre (1914).

Rubiner besprach in seinem Zeit-Echo den Roman Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-Lun (1915) und erläutert seine Tätigkeit als Literaturkritiker folgendermaßen:

Ich treibe nicht Kunstkritik, sondern ich zeichne die heute mögliche Äusserung des Geistigen in der Welt auf. (93)

Rubiner nennt den Roman Döblins „das bedeutendste religiöse Werk, das seit Jahren in Europa veröffentlicht wurde“. (94) Die Geschichte des Wang-Lun beruht auf einer wahren Begebenheit: der von einem Fischersohn angeführte Aufstand hat 1774 stattgefunden. Wang-Lun beruft sich auf die Lehre von Laotse vom Nichthandeln, die Anhänger bei der Masse findet. Döblin ging es nicht darum, einen historischen Roman zu schreiben, sondern den Widerstand des Einzelnen gegen die Macht der Herrschenden und den Aufstieg eines einfachen Menschen bis zum geistigen Führer der Volksrevolution zu schildern. In seiner Rezension des Romans legt Rubiner besonderen Nachdruck auf die Neuschaffung aus dem Geist nach dem Vorbild Tolstois.

(92) Ludwig Rubiner, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.713.

(93) Ludwig Rubiner, Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-Lun, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.20.

(94) Ludwig Rubiner, Alfred Döblin, ibid.

Unter dem Titel Biologie unserer Zeit besprach Rubiner das Antikriegsbuch des Biologen Georg Nicolai Die Biologie des Krieges (1917), das in der Zeitschrift Die Aktion erschien. Rubiner preist das Verfahren Nicolais als Biologe:

Er geht bis an die äusserste Grenze von Konsequenzen der exakten Tatsachenforschung in der Biologie, und er stellt überall fest, wo jenseits dieser Grenze das Selbständigkeitsgebiet des Menschen beginnt. So kommt er, von ganz anderer Seite her als wir, zu den erhabensten Formulierungen der kommenden neuen Zeit, einer Epoche der Geistigen. (95)

Das Manifest Nach Friedensschluß eröffnet das Juniheft. Rubiner trägt sein Glaubensbekenntnis zum ethischen Sozialismus Gustav Landauers vor und teilte dessen Ansicht, dass solidarisches Handeln immer eine kritische Selbstreflexion voraussetzte. Rubiner kannte die politischen Theorien Lenins und Trotzkis aber verhält sich dem historischen Materialismus gegenüber abweisend und lehnt den orthodoxen Marxismus, genauer gesagt, den Klassenkampf ab, weil dieser in den Fragen der Ethik keine Antwort gab.

Der demokratische Sozialismus darf nicht mit dem klassenkämpferischen Syndikalismus gleichgesetzt werden und darf nicht nur die materielle Umwälzung einer organisierten Klasse, des Proletariats, propagieren, das „sich das Maß der kleinsten Zufriedenheit gesetzt hat“. (96)

Rubiners Sozialismus war von einem religiösen Pathos geprägt. Der ethische Sozialismus setzt als große Forderung für die Zukunft das Interesse der Gesamtheit und nicht das des Einzelnen, die Entwicklung des Menschen als Ganzes und nicht die Steigerung der kapitalistischen Produktion voraus. Die Wendung vom aktuellen unfreien, bedingten Pseudosozialismus, den Rubiner als Zehntelsozialismus (97) abwertet, zum ethischen Sozialismus wird aus dem Gemeinschaftsgeist, aus der Gemeinschaftsgesinnung erfolgen. Rubiners politisches Ideal stellt den Sozialismus als Erdballgesinnung dar und macht allein die Intensität des menschlichen Gefühls, des inspirierenden Geistes, für die Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse geltend.

(95) Ludwig Rubiner, G.F.Nicolai: Biologie unserer Zeit, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.21.

(96) Ludwig Rubiner, Nach Friedensschluss, Zeit-Echo, 1917, Juniheft, S.2.

(97) Ludwig Rubiner, Nach Friedensschluss, ibid., S.4.

Das Manifest endet mit der Erwähnung des Sozialreformers Silvio Gesell, der mit seinem Hauptwerk Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld (1916) als führender Vertreter der Freiwirtschaft gilt.

Unter dem Titel Revolutionstage in Russland veröffentlichte Rubiner Briefe Tolstois an seine Freunde zur russischen Revolution. Der Briefwechsel endet mit einem Zitat: Beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet! (98). Diese Worte sind aus Busonis musiktheoretischer Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) entnommen und lesen sich wie ein biblischer Spruch.

Die Polemik Schriftsteller eröffnet die Rubrik Menschen, Bücher, Zeitschriften des Juniheftes, der folgen: die Kritik Demain, in der er der pazifistischen Zeitung des französischen Sozialisten Henri Guilbeaux und den Gedichten Pierre Jean Jouves Vous êtes des hommes (1915) huldigt, die Kritik Salut à la révolution russe 1917 mit den Äußerungen der französischen Intellektuellen zur russischen Revolution und der Polemik Frankreichs andere Seite. Lobende Worte findet Rubiner für die kulturellen Bestrebungen der französischen Literaten zugunsten der Unterstützung einer kriegsfeindlichen, europäischen Front.

Das Juniheft endet mit einer weiteren Hommage an Nicolais Streitschrift gegen den Krieg und mit der Polemik Konjunkturbuben, in der Rubiner den Schriftsteller Klabund, wegen seiner Wandlung von der Kriegsbegeisterung zur Kriegskritik, als Konjunkturbube bezeichnete.

Der oben erwähnte Artikel Pfemferts Es ist nichts geschehen eröffnet das Juliheft. In der Polemik Ihr wollt es nicht gewesen sein der Rubrik Menschen, Bücher, Zeitschriften zieht Rubiner Bilanz der Kriegsjahre und regt an, die Schuld des Krieges zu bekennen. In der polemischen Schrift Opportunisten nennt er alle diejenige ohne sittliche Anschauung (99), die den Krieg unterstützen.

(98) Revolutionstage in Russland. Briefe aus Tolstoijs Freundeskreis, Zeit-Echo, 1917, Juniheft, S.13.

(99) Ludwig Rubiner, Opportunisten, Zeit-Echo, 1917, Juliheft, S.19.

In René Schickeles Weisse Blätter weist Rubiner auf den österreichischen Sozialdemokraten Friedrich Adler hin, der 1916 den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh erschoss. Er wurde zum Tode verurteilt, aber daraufhin zu 18 Jahren Kerker begnadigt. Rubiner veröffentlicht den Artikel mit der Bemerkung Schickeles über den Vorfall:

In der Wiener "Zeit" las ich: "Unmittelbar vor der Urteilsverkündung spielte sich eine kleine, aber bemerkenswerte Episode ab. Der Gerichtshof hatte eben seine Beratung beendet und schickte sich an, wieder den Verhandlungssaal zu betreten, um das Urteil zu verkünden. In diesem Augenblick erhebt sich der Angeklagte von seiner Bank, richtet sich hoch auf und winkt lebhaft und freudig lächelnd nach dem Hintergrund des Auditoriums. Dort, etwa in der zehnten Reihe, sitzt der Vater des Angeklagten, der Abg. Dr. Viktor Adler. Er bemerkt die Bewegung des Sohnes. Sofort erhebt er sich und erwidert kopfnickend und winkend diesen Gruß. Zwei Sekunden später beginnt der Präsident mit der Kundmachung des Erkenntnisses, durch das Friedrich Adler zum Tode verurteilt wird." Daran mußte ich am Abend in der "Zauberflöte" plötzlich denken, als Tamino und Pamina ihren Rundgang durch die Feuer- und Wasserprobe machten. In der über dem Abgrund schwebenden Heiterkeit dieser Musik spiegelte sich mir Fritz Adlers Gesicht. (100)

Unter den Titeln In Völker zerrissen (1916) und Figuren (1916) rezensierte Rubiner die Novelle des Schweizer Schriftstellers Charlot Strasser und das Buch Paul Wieglers über die russische Revolution 1905, das keinen Anklang bei ihm findet. Die letzte Kritik des Juliheftes Europa lebt noch ist ein Lob der pazifistischen Zeitschrift Les Tablettes von Claude Le Maguet, die das Heft vom Juni 1917 dem Gedächtnis Tolstois widmet. Die Würdigung wird von zehn Tolstoi-Verehrern verfasst:

Die Zentralsonne des Heftes ist eine große, ganz schimmernde Wahl von Lebensworten Tolstojs aus seinen Werken und seinen Tagebüchern. […] Um Tolstojs Wort gestellt ist die Gemeinschaft der Freunde. […] Zum erstenmal wieder, seit ach, wie langen Jahren, gerade in der höchsten Not der Menschheit sprach öffentlich eine Gemeinschaft das Wort für den geistigen Bruder in jedem Menschen! (101)

(100) Ludwig Rubiner, Die Weißen Blätter, Zeit-Echo, 1917, Juliheft, S.19-20.

(101) Ludwig Rubiner, Europa lebt noch, Zeit-Echo, 1917, Juliheft, S.22.

Rubiner sieht in diesem Bekenntnis zum Menschentum den Ausdruck einer neuen Generation von Menschen, die bereit sind, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Das Zeit-Echo folgte der humanitären Tradition Tolstois, der die Seele der von Rubiner angestrebten Gemeinschaft ist.

Die Gemeinschaft ist die größte Forderung für die Zukunft und das ist das Thema des Aufsatzes Die neue Schar, der das August-Septemberheft eröffnet. Rubiner meinte die neue Schar von Mitmenschen, die die moralische Kraft haben, an der menschlichen Koexistenz zu arbeiten. Das Ziel, ist, aus der Geisteskraft eine Gemeinschaft zu bilden, weil die Gesellschaft geistig und kulturell verarmt ist. Rubiner forderte die Schriftsteller auf, zu Sprechern des Menschen (102) zu werden, bewusst das Ideal zu schaffen, um Menschen dazu zu bringen, die Realität zu verändern. Der Literat soll sich seiner politischen Verantwortlichkeit nicht entziehen, das heißt dem politischen und sozialen Leben einen sittlichen Einfluss verschaffen.

Mittelpunkt seines Aufsatzes ist eine geißelnde Kritik an Stefan George, den er einen Spezialisten des Wortes, einen hochmütigen Hofprediger (103) nennt und an Heinrich Mann, der sich mit seinem Roman Die Armen (1917) vorgenommen hat, eine geistige Umwälzung zu schildern, aber nur seine Unfähigkeit bewiesen hat, eine Perspektive zu zeigen, die über den allerengsten Horizont des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Kapitalismus hinausgeht.

(102) Ludwig Rubiner, Die neue Schar, Zeit-Echo, 1917, Aug.-Septemberheft, S.5.

(103) Ludwig Rubiner, Die neue Schar, ibid., S.9.

In der Rubrik Menschen, Bücher, Zeitschriften des letzten Heftes besprach Rubiner Iwan Golls Gedicht Requiem (1917), Theodor Taggers Programmschrift Das geistige Geschlecht (1917) und veröffentlicht eine Würdigung des Graphikers Frans Masereel, der die Zeitschriften Les Tablettes und La Feuille gezeichnet hat. Die Rubrik Dokumente des Irrsinns beinhaltet zwei Auszüge - Zweihänder und Bring uns, Herr, ins Paradies! - die aus der Kriegspresse und aus dem Soldatenbuch von Robert Falke Kriegerzweifel (1917) entnommen sind. Unter dem Titel Schweizer veröffentlicht Rubiner vier Kritiken mit den Überschriften Robert Faesi, Jean Debrit, Kameradenstimme und Neue Wege. Rubiner würdigt Faesis Gedankenverse Aus der Brandung. Zeitgedichte eines Schweizers (1917), Debrits Buch Und also ward der Krieg (1917) und den Artikel Charlot Strassers im Berner Sonntagsblatt Bund.

Die letzte Folge der Artikelserie über die Schweizer widmet er der Zeitschrift Neue Wege des Theologen und Mitbegründers der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz, Leonhard Ragaz. Ragaz setzte sich für den Frieden und für eine sozialistische Gesellschaftsordnung aus dem Glauben an die Gerechtigkeit und Heiligkeit des Reiches Gottes ein. Er vertrat damit den religiösen Sozialismus als Synthese zwischen Evangelium und einem sozialistischen Weltmodell. Das kapitalistische System und eine verbürgerlichte Kirche waren verantwortlich für die moralische Krise der Gesellschaft und für den Militarismus, und dabei ging es nicht darum, das wirtschaftliche System zu ändern, sondern eine Änderung der Gesinnung herbeizuführen. Das entspricht Rubiners Anschauung wohl am ehesten:

Ich betone stark, daß es, heißt: Gesinnung, nicht Wissenschaft. Das war der Grundfehler der bisherigen Arbeit, daß sie, im Schlepptau des allgemein-bürgerlichen Ideals, die Arbeiterbildung vor allem in einer Mitteilung von Wissen suchte. Dieser Fehler aber hing mit dem andern zusammen, daß der Sozialismus überhaupt viel zu sehr als eine Wissenschaft verstanden wurde. […] aber in erster Linie und letzten Endes ist der Sozialismus, wie schon gesagt worden ist, ein Ziel des Willens, ein sittliches Ideal und ein sittlicher Glaube. (104)

(104) Ludwig Rubiner, Neue Wege, Zeit-Echo, 1917, Aug.-Septemberheft, S.55.




Die indischen Opale:


eine Berliner-Kriminalgeschichte


mit türkischem Hintergrund

Rubiners literarisches Werk im Zeitraum zwischen 1910 und 1914 umfasst den Kriminalroman Die indischen Opale, Die Kriminalsonette, und die Pantomime für das Kino Der Aufstand. Es spiegelt auf spielerisch-groteske Art den Reiz wider, den die verbrecherischen Taten und die kriminelle Intrige auf den Autor ausüben.

1910 veröffentlicht Rubiner unter dem Pseudonym Ernst Ludwig Grombeck den Kriminalroman Die indischen Opale im Berliner August-Scherl-Verlag.

Nach meinen Forschungen hat Ludwig Rubiner reichlich Stoff zu seinem Kriminalroman in den Darstellungen aus meinem Leben und aus meiner Zeit - Darstellungen aus einer Reise durch Deutschland und Italien im Jahre 1895 von Friedrich Karl von Strombeck gefunden. Das Pseudonym GROMBECK hat eine auffallende phonetische Ähnlichkeit mit dem Namen des Autors dieses biographischen Werkes, STROMBECK.

Die indischen Opale können Ludwig Rubiner mit einiger Sicherheit zugeschrieben werden, denn der Band enthält auf dem Innentitel eine Porträtzeichnung. (105)

1908 erschien der Roman auch in Fraktur in der Berliner-Zeitschrift Praktischer Wegweiser für jede Familie als Anhang auf der Werbeseite. (106)

(105) Wolfgang Haug, Ludwig Rubiner. Künstler bauen Barrikaden, ibid., S.7.

(106) Quellenhinweis: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Siehe www.rubiner.de.

Rubiners Vater Wilhelm hat starken Einfluss auf den Sohn gehabt. Er war Mitarbeiter der Berliner-Zeitschriften Die Woche und Literarische Umschau des Berliner Lokal-Anzeigers und galt als Autor von Unterhaltungsromanen, die er unter den Pseudonymen Gerhard Stein und Otto Waldeck veröffentlichte.

Anfang des 19. Jahrhunderts war die Unterhaltungsliteratur beim deutschen Publikum sehr beliebt, dank der deutschen Übersetzung der Kriminalromane von Emile Gaboriau, der Detective Stories von Conan Doyle und der Comicreihe Nick Carter. An der Verbreitung der Detektivromane lässt sich sowohl ein Wechsel der Lesegewohnheiten der Leute als auch der sozialen Verhältnisse feststellen. Die Industrialisierung der modernen, kapitalistischen Gesellschaft und die Steigerung der Großstadt-Kriminalität trugen dazu bei. Dazu kommt ein wissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung des Gaunermilieus und der Untersuchungsmethoden durch den österreichischen Kriminologen Hans Groß.

Rubiner lässt die Handlung in Berlin - seiner Geburtsstadt - spielen, in der am Anfang des Jahrhunderts ein bemerkenswerter industrieller Aufschwung und ein technischer Fortschritt begonnen hatten.

Die erwähnten Ortsnamen führen den Leser durch das historische Berlin und verweisen auf seine Sehenswürdigkeiten: Potsdamer Brücke, Friedrichstraße, Oranienburger Tor, Kranzlerecke, Siegessäule, Siegesallee, Potsdamer Straße, Potsdamer Platz, Leipziger Straße, Unter den Linden, Tiergartenstraße.

Rubiner verurteilt die Stadt als Ort menschlicher Entfremdung:

Berlin! - Ein Summen, Klirren und Stampfen steigt in die Nacht auf, und das schillernde Netz der Lichter spannt sich über das tönende Dunkel. Licht und Lärm sind untrennbar vereint in dieser gewaltigen Stadt der Arbeit und der Lust; und wenn die Massen durch die geraden Straßen der jungen Großstadt hasten, weiß man nie, ob es zur Arbeit geht oder zu irgendeiner hastigen, schnell beschlossenen, schnell genossenen und schnell erledigten Vergnügung. (107)

(107) Ludwig Rubiner, Die indischen Opale, Praktischer Wegweiser für jede Familie, 1908, S.101.

Rubiner bezieht sich mehrmals auf den Industrialisierungsprozess, der das neue Leben der deutschen Hauptstadt prägt, aber er löst sich von diesem weiten und frenetischen Stadtbild, indem er den Blick des Lesers auf einen schmalen Ausschnitt von vertraulicher Atmosphäre richtet. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf den vornehmen Stadtteil von Berlin, den Tiergarten, das alte Jagdrevier der Kurfürsten von Brandenburg. Hier wohnt die wohlhabende Familie Brandorff, die aus einem ehemaligen Bankier und Kunstsammler, seiner Tochter Cecily und der Dienerschaft besteht:

Am Rande des Tiergartens gibt es ein paar ruhige Straßen mit villenartigen, soliden Häusern hinter Bäumen und Vorgärten, die gebaut zu sein scheinen, um einen ruhenden Punkt für beschauliche Leute in dem wüsten Strudel der Großstadtgegensätze zu bilden. […] Der ehemalige Bankier Brandorff war in Berlin als ein sorgfältiger Sammler reicher Kunstschätze bekannt, doch schon seit Jahren kaum mehr als dem Namen nach. Er besuchte niemand, empfing auch keine Besuche, und trotzdem seine Tochter Cecily seit einiger Zeit aus ihrer englischen Pension zurückgekehrt war, gab Brandorff auch keine Gesellschaften. Seit einigen Jahren verließ er sogar nicht einmal mehr zu Spaziergängen das Haus. In dieser Wohnung in der Margaretenstraße galt nur ein Gesetz: die verwöhnten Nerven des alten Raritätenliebhabers zu schonen. (108)

(108) Ludwig Rubiner, ibid.

Die Protagonisten leben in einer Art zeitloser Idylle, sie stehen im Gegensatz zum Geschäftsgeist der modernen Zeit, sie sind stilisiert und ihre Mimik ist auf das Wesentliche reduziert.

Das Verbrechen bricht über die Familie herein und bringt ihre unzeitgemäße Lebensweise aus der Ruhe. In der Anfangsszene werden die Stadt und das soziale Umfeld geschildert, aber die trügerische Stille wird vom Auftauchen eines Schutzmanns übertönt. Der Schutzmann geht nachts auf Streife und sieht einen Mann, der das Haus Brandorffs verlässt.

Das plötzliche Verschwinden des ehemaligen Bankiers versetzt die Familie am Tag danach in größte Aufregung, weil der Hausherr sich in der letzten Zeit aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hatte.

Der Kommissar Redberg und der Rechtsanwalt Johannes Sanders sind mit der Ermittlung beauftragt und der Verdacht lastet auf dem Neffen Erich Soltau, tätig als Fabrikdirektor. Am Vorabend des Verschwindens gab es einen heftigen Streit zwischen Soltau und seinem Onkel. Der englische Hausangestellte John Barker berichtet der Polizei über das Geschehen im Haus. Der Streit ist wegen Geldangelegenheiten entbrannt: Soltau gestand seinem Onkel, dass er Spielschulden an Hugo von Mohl hatte, ein Mitglied eines berühmten Privatclubs der Stadt, des Westen-Clubs, in dem er verkehrte.

Mit einem geschichtlichen Rückblick auf die politische Bewegung der Jungtürken 1876 verlagert sich das Geschehen von Berlin in die Türkei. Der Rückblick wird durch Tagebuchnotizen aus der Jugendzeit des Protagonisten eingeleitet. Der Kommissar und der Rechtsanwalt glauben fest daran, dass das Tagebuch der Schlüssel zum Enträtseln des Verschwindens des alten Herrn sein kann.

Aus den im Tagebuch erhaltenen Informationen stellt sich heraus, dass Brandorff und ein gewisser Herr M. in lukrative Affären in der Türkei verwickelt waren. Das osmanische Reich und die revolutionäre Bewegung der Jungtürken bieten den historischen Hintergrund für diesen Teil der Erzählung. Die Jungtürken förderten die politische und wirtschaftliche Modernisierung des Reiches. 1876 bildeten sie eine eigene Partei, im Juli 1908 wandten sie sich gegen das veraltete System des Sultans; sie schufen es ab, um es in einen Verfassungsstaat umzuwandeln.

Brandorffs Tochter, Cecily, ist von der Unschuld Soltaus fest überzeugt und setzt sich für ihn ein. Sie fängt an, selbst zu ermitteln und gerät schnell in einen Strudel abenteuerlicher Ereignisse. Sie folgt einer Spur, die sie in den Club führt, und es gelingt ihr, als Mann verkleidet, sich dank der Hilfe eines Clubdieners, Franz Hölzer, in den Club einzuschleichen:

Sie waren offenbar die ersten im Haus. Unbemerkt stiegen sie die Treppen hinauf und kamen auf einen dunklen, kalten Bodenraum. Durch einige Gänge wanden sie sich an muffig riechenden Bretterverschlägen vorbei, dann hörte der letzte schwache Schimmer von der Treppe draußen auf. Hölzer nahm eine Taschenlampe heraus, und im kleinen Schein des elektrischen Lichtes sah Cecily, daß sie in einem ausgemauerten, viereckigen Raum stand, der nur den Eingang hatte, durch den sie eben gekommen waren, und in dessen schrägem Balkendach eine Öffnung zum Durchzug frischer Luft angebracht war. (109)

(109) Ludwig Rubiner, ibid., S.268.

Der alte Brandorff wird auf geheimnisvolle Weise von einigen Männern nach Hause zurückgebracht. Nach ihren Angaben wurde er nach Tegel transportiert. Kurz vor seinem Tod gestand er die Unschuld des Neffen und erwähnte das Tagebuch und die Opale seiner Privatsammlung.

Das Tagebuch ist kodiert und Brandorff benutzte sympathische Tinte, um es zu schreiben. Durch die Entschlüsselung der Schrift werden alle Hintergründe aufgeklärt. Brandorff blieb mittellos, nachdem sein Bankgeschäft in Deutschland ruiniert war. Es gelang ihm, in einem Bankhaus in Paris eine Stelle zu bekommen. Geldprobleme bewegen ihn dazu, einen Auftrag im Namen der Partei der Jungtürken auszuführen, die Geld und Unterstützung einer europäischen Großmacht braucht.

Brandorff wirkte als Vermittler bei dieser Angelegenheit und stellte für die türkische Partei eine Verbindung mit einer Gesandtschaft her, weil er in Paris einen jungen Attaché, Anton von Mohl, kannte. In Istanbul lernten sie einige Mitglieder der Partei und das Oberhaupt der Jungtürken, Mustapha Fasil-Pascha kennen. Nach dem Sturz des Sultans gelangte er in Besitz zweier indischer, magischer Opale, deren Kraft auf die Partei überging. In Damaskus ließ er die Steine nachmachen, die er den zwei Europäern als Erkennungszeichen der Partei schenkt.

Es gelang Brandorff und Mohl, ein Pariser Bankhaus zu kontaktieren, um die finanzielle Unterstützung zu erhalten. Als der Tag der Abreise kam, wollte Mustapha Fasil-Pascha ein Fest geben: Von Mohl ergreift die Gelegenheit, um einen Fluchtplan zu schmieden. Er wollte Madame de Trémaine retten, die sich gefangen in einem Harem findet. Dann verschwand er mit der Dame spurlos, nachdem er Brandorff ein Päckchen mit den zwei echten Opalen gegeben hat.

Aus der Darstellung der Tatsachen geht hervor, dass Hugo von Mohl, der Sohn von Anton von Mohl, einige Aufzeichnungen des Vaters über seine Verwicklung in die europäische Politik gefunden hatte. Da er von den zwei Opalen und deren magischer Kraft wusste, besticht er den Hausdiener, der auf seinen Plan eingeht, Brandorff die Opale zu rauben und an ihre Stelle die zwei Imitationen zu legen. Der alte Brandorff stand aber plötzlich da, als der Diener die Opale in seiner Hand hielt. Damit der Plan nicht scheitert, schlug der Diener vor, Brandorff mitzunehmen, um eine Entführung vorzutäuschen. Später beschließen sie, ihn zurückzuschicken, als er fast dem Tode nah war.

Hugo von Mohl konnte aber nicht loslassen und blieb wie gefesselt an Brandorffs Haus hängen. Immer wieder ging er mit seiner Schwester, Frau von Zemlinska, um das Heim Brandorffs herum. Am Schluss ergibt es sich, dass er tatsächlich die echten Opale besitzt, die wie eine dämonische Bedrohung zu seiner Besessenheit geführt haben. Die Szene eskaliert zu Streit und Anschuldigungen und seine Schwester rief ihm ins Gesicht, dass die Steine sie beide ins Verderben gestürzt haben. Sie schießt ihn nieder, dann bringt sie sich um. Der Roman endet mit einem sentimentalen Happy End: die Vermählung zwischen Cecily und Soltau wird angekündigt.




Die Kriminalsonette

Entstehung und Erläuterung einiger Sonette

Der Aufenthalt in der französischen Hauptstadt, wohin Rubiner 1912 zusammen mit Carl Einstein umzieht, ist die Gelegenheit zum Verfassen der Kriminalsonette, die 1913 in Leipzig veröffentlicht wurden. Rubiner schreibt sie zusammen mit Friedrich Eisenlohr – Publizist der Zeitschrift Die Aktion – und dem reichen amerikanischen Händler Livingstone Hahn.

Die Kriminalsonette bestehen aus dreißig sarkastischen, witzigen Gedichten, die vom Verleger Kurt Wolff sofort mit den Galgenliedern und dem Palmström von Christian Morgenstern verglichen werden. (110) Die grotesk waghalsigen Abenteuer der zwei Figuren, Fred und seinem Freund (er wird allgemein der Freund genannt) werden von Rubiner, Eisenlohr und Hahn in der Hinterstube des Pariser Lokals Au cocher fidèle erfunden, in einem Milieu also, das den antiakademischen Charakter des Werkes ahnen lässt. Die ironische Absicht ist schon durch die Anfangswidmungen angedeutet, die sie untereinander austauschen:

Diese Verse widmet seinen lieben Freunden Livingstone Hahn und Friedrich Eisenlohr LUDWIG RUBINER - widmet seinen lieben Freunden Friedrich Eisenlohr und Ludwig Rubiner LIVINGSTONE HAHN - widmet seinen lieben Freunden Ludwig Rubiner und Livingstone Hahn FRIEDRICH EISENLOHR. Paris, im Frühjahr 1913.

(110) Klaus Petersen, Ludwig Rubiner, ibid., S.12.

Die Unterwelt wird von zwei gewerbsmäßigen Schurken dargestellt, Fred und seinem Mittäter. Das erste Sonett stellt die Handlung und die Figuren vor:

Auf steilen Dächern rennt ein Herr im Frack, Ein Polizeihelm stieg aus dunklem Schachte. In Höfen ward es laut. Ein Browning krachte. Man prügelt Fremde. Einen rührt der Schlag./ Im Haus der Gräfin tanzte man und lachte; Die Kenner freuten sich am Japan-Lack. Fred nebenan schob Erb-Schmuck in den Sack, Indes der Freund die offne Tür bewachte./ Der Spürhund wedelt eifrig durch die Stadt; Ein Kommissar führt wichtig seine Liste. Die Zeugensprüche füllen manches Blatt./ Zu Haus greift Fred in die Importenkiste. Der Freund am Spiegel streicht den Scheitel glatt. Dann führt man Tagebuch als Belletriste. (111)

Die weiteren Sonette erzählen eine Reihe von verschiedenen Abenteuern, die als turbulente Wechselfälle aufeinanderfolgen. Ihr Inhalt wird schon aus dem Titel deutlich. Das Kriminalthema enthält vielerlei Formen von Gewalt, von bissiger Provokation und Sabotage bis zur Revolution, und zum Schluss die genüssliche, spaßige Lust an der Schadenfreude. Die Themen werden gemäß dem Titel jeder der sechs Teile unterteilt: Kapital, Detektivisches, Menschlichkeit, Bluff, Politik und Liebe. Das Anfangs– und Schlusssonett bilden den Rahmen des thematischen Kernes.

Die Ränkespiele der zwei Diebe zielen darauf, Schecks von reichen Millionären zu erpressen und wohlhabende Witwen zu berauben, deren Vermögen ihre kriminelle Phantasie reizen. In diesem Zusammenhang sind die zwei Sonette Die Schreckenskammer des Teils Kapital und Heinz des Teils Menschlichkeit zu sehen: im zweiten dieser Sonette rechtfertigt die Menschenliebe den Betrug und spottet dem bürgerlichen Wohltätigkeitsgeist:

Der Bankherr führt ins Wachspanoptikum Die junge Braut. Fred an der Guillotine, In Henkersmantel und maskierter Miene, Steht täuschend wächsern, steifgereckt und stumm./ Der Freund, als Führer, zeigt die "Folterbiene". Die "Daumenschrauben", das "Bein-dreh-dich-um", Die Totenmaske von Napolium - Und weist erklärend auf die Mordmaschine. (112)/ Fred lernt einmal auf einer Luxusreise Frau Lippmann, eine reiche Witwe, kennen. Als kurz vor Petersburg die Wagen brennen Trägt er sie schwer verstümmelt vom Geleise./ Im Fieber fängt sie an nach "Heinz" zu flennen. Und stirbt. Fred fälscht die Erbbeweise. Der Freund vergiftet die Familiengreise. Fred wird sich beim Termin "H. Lippmann" nennen. (113)

(111) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, Die Kriminalsonette, Klaus G. Renner, Erlangen und München, 1979, S.7.

(112) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.13.

(113) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.31.

Die zwei Figuren entziehen sich geschickt der Verfolgung des Detektivs Greiff und tun immer die passenden Spielzüge auf Grund klug abwägender Fluchtpläne. Im Sonett Der Diebstahl im Louvre des Teils Detektivisches entwenden sie ein Porträt von Giorgione und schicken es heimlich nach Mexiko:

Schon barg der Freund im Beinkleid den Giorgione Und hinkt zum Ausgang wie ein Känguruh, Detektiv Greiff hält ihm die Türe zu Und präpariert die erste blaue Bohne./ Indes zieht Fred den Browning aus dem Schuh Und lädt ihn mit der Chloroformpatrone. Man läßt dem steifen Greiff in hellem Hohne Ein Aktenstück. (Die Pläne zu dem Coup). (114)

Fred und sein Freund handeln mit Brutalität und Schlauheit, so dass die Geschichten in den schwärzesten und ironischsten Farben geschildert werden, sie kämpfen mit allen Waffen gegen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Unterdrückung. Sie lassen ihre verhaltene Kriminalität an der Polizei, am Kapital und an den Konzernen aus, an jeder Form von marktfähiger Betriebsorganisation des wilhelminischen Wirtschaftswunders. Im Sonett Der Kettensprenger des Teils Bluff ist die Übereinstimmung zwischen politischer und industrieller Gewalt ein Bezug auf die Stahlwerke Krupp, aus denen Deutschland einen Großteil der Rüstung während der zwei Weltkriege schöpft:

Houdini stürzt sich in den Bodensee. Krupp-Essen laboriert im Prüfungssaal, Und sucht verzweifelt einen neuen Stahl. (115)

(114) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.24.

(115) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.35.

Fred und sein Mittäter wollen die festen Wälle der politischen und kirchlichen Gewalt vernichten. Ihr Ziel ist die Weltrevolution, geführt mit der Stärke desjenigen, der kraftvoll der Welt einen Fußtritt versetzen will, um sie zugrunde zu richten und einen allgemeinen Anarchiezustand entstehen zu lassen. Mit ihren dunklen Ränkespielen verursachen sie die Pleite von Banken und Börsen. Nicht nur das Kapital wird zerschlagen: die revolutionäre Absicht trifft auch den Kirchenstaat mit der Explosion des Vatikans, wie das Sonett Der Papst des Teils Politik zeigt:

Im Petersdom dampft Amber auf und Narde. (Der Freund befehligt schon die Nobelgarde, Indessen Fred als Schatzverwalter gilt.)/In dunkler Nacht verschwindet Fred nach Brüssel, Ein Sammler übernimmt den Peters-Schlüssel, doch Petri goldnen Stuhl kauft Vanderbilt. (116)

Die Liebesabenteuer des letzten Teils Liebe verwickeln den sentimentalen Bereich in einen Kreislauf von Schwindel, Eigennutz und Rache. Die Liebe gehört zum Komischen, weil sie als willkürlicher Überbau verstanden wird und deswegen sie im Widerspruch zum gesellschaftlichen Leben steht: auch sie wird zur Ware. Die allgemeine Entwicklung der Wechselfälle zeichnet sich durch beängstigende Schnelligkeit aus, die den entfesselten Tätigkeitswillen der zwei Figuren zeigt. Sie laufen dem Ende der Kriminalgeschichte im Sonett Don Juan nach:

Im Auto tadelt Fred: "Ich war bereit Den ganzen Tag zu unserm Schluß-Sonette. Was kosten deine Frauen mich für Zeit! (117)

(116) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.43.

(117) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.50.




Die Kriminalsonette in der literarischen Tradition

Rubiner übernimmt die klassische Gedichtform des Sonetts – eine höfische Gedichtform italienischen Ursprungs – und dessen metrische Einteilung in vier Strophen, zwei Quartette und zwei Terzette, zum Ausdruck des kriminellen Inhalts und des Galgenhumors. Sie stellen deswegen eine künstlerische Revolte dar.

Die Kriminalsonette haben einen gesellschaftskritischen Hintergrund und mit ihrem verbrecherischen und satirischen Inhalt erinnern sie an die Bänkellieder, die auf Jahrmärkten und Messen vorgetragen wurden. Die Balladen und die Lieder des mittelalterlichen Barden François Villon (1431- nach 1463) haben einen großen Einfluss – wegen des kriminellen Inhaltes und der Beschreibung des Gaunermilieus – auf die expressionistischen Autoren gehabt.

Das Spiel mit der Sprache hatten auch andere Autoren getrieben.

Die Sonette spiegeln die psychologische Situation des poète maudit wider, die einige Jahre zuvor Morgenstern seinen grotesken Gedichten eingegeben hatte. Mit den Galgenliedern (1905), die er für das Kabarett Die Brille schreibt, bezieht sich Morgenstern auf die deutsche Tradition des Kabaretts. Er verfasst seltsame Geschichten, deren Inhalt mit reinem Sprachexperimentieren Gestalt gewinnt: er erreicht originelle Ergebnisse durch semantische Entstellungen, phonische Analogien und das plötzliche Apokopieren der Wörter. Das Spiel der Parodie und des Nonsens verursacht jene Anarchie der Wörter, die die Verwerfung der modernen, kommerziellen Sprache zeigt.

Die Sonette Rubiners bedeuten eine intellektuelle Befreiung und sind von demselben protestierenden und nonkonformistischen Geist beseelt, wie die grotesken Gedichte von Morgenstern. Auch Rubiner benutzt die Sprache hauptsächlich als Provokation, um mit ungestümer Ironie das sprachliche Vertrauen des Bürgers anzugreifen und seine Schwäche aufzudecken. Die Groteske verzerrt und verschärft die Wirklichkeit und offenbart mit apokalyptischen und nihilistischen Bildern den geheimnisvollen und verwirrenden Inhalt des bürgerlichen Lebens. Das Scheitern der alten wilhelminischen Gesellschaft, despotisch und militaristisch, wird mit visionären, zynischen und haarsträubenden Bildern dargestellt.

Die Kriminalsonette sind auch den scherzhaften Gedichten aus dem Lyrikband Paul Scheerbarts Katerpoesie (1909) und den grotesken Erzählungen (ab 1920) Walter Serners ähnlich.

Mit seinen Erzählungen zeigt Serner zynisch und spöttelnd die Geschäftsgesellschaft der Kriegszeit und der Zwanzigerjahre. Die Ähnlichkeit mit den Kriminalsonetten wird durch die Absicht des Autors noch deutlicher, die Halbwelt mit jenem Nimbus von bürgerlichem Ansehen zu umgeben und sie den gesetzlichen Vorschriften zu unterwerfen. Das freie menschliche Verhalten, ohne gesellschaftliche, politische und moralische Hemmungen, entspricht dem umstürzlerischen Inhalt, den die jungen expressionistischen Schriftsteller verbreiten und durchsetzen wollen, um sich von der unterdrückenden Vatererziehung zu befreien.

Die Kriminalsonette sind wie die Erzählungen Serners durch kurze Inhalte gekennzeichnet und entwickeln sich mit geschickten und blitzschnellen Bewegungen, deren Schlusseffekte von scharfem Witz gekrönt werden. Diese Entwicklung richtet sich nach der Gattung des behandelten Themas und schließt die moralische Anteilnahme des Autors ein. Auf dem Papier zeichnet sich ein lebhafter Rhythmus ab, um die Bewegtheit der staatsfeindlichen, anarchistischen Taten der Betrüger darzustellen und die Zustimmung des Autors zu den erfolgreichen Umtrieben gegen die Bürger auszudrücken.

Die Kriminalsonette zeigen ein weiteres Element gesellschaftlichen Protestes neben den anderen publizistischen Werken der Zeit. Rubiner begreift die Sprache als das System, das die Hierarchie der Macht bekräftigt. Die vis polemica zerstört daher die dichterische Aura des Sonetts.

Die Kritik der konventionellen Natur der Sprache betrifft nicht nur den rein literarischen Bereich, sondern ist auch Gegenstand der theoretischen Forschung des deutschen Philosophen Fritz Mauthner. Die Kriminalsonette stehen daher innerhalb einer Stimmung, die von literarischen und philosophischen Einflüssen wimmelt: sie sind kein Einzelfall im Werk der Zeit und sind vergleichbar mit der expressionistischen Lyrik. (118)

Die Kriminalsonette ähneln inhaltlich stark den Sonetten von Salomo Friedländer Hundert Bonbons (1918). Friedländer verwendet die gleiche Sonett-Form, um allerlei Frechheiten „abzuleiern“. Die inhaltliche und metrische Ähnlichkeit ist durch den Autor selbst begründet. (119)

(118) Hans Richter, Dada Profile, Arche, Zürich, 1961, S.45.

(119) Salomo Friedländer/Mynona - Alfred Kubin, Briefwechsel, Edition neue Texte, Linz, 1986, S.80.

Auf Grund der Ähnlichkeiten zwischen den kriminellen Taten der zwei Figuren und denen von Mackie Messer (120), stehen die Kriminalsonette auch in Verbindung mit Brechts Dreigroschenoper, die 1928 zum ersten Mal gespielt wurde. Auch sie hat die Zielsetzung, die traditionelle Moral aufzudecken. Die Bettler, die vom Wucherer Jonathan Jeremiah Peachum ausgenützt werden, täuschen vor, körperlich behindert zu sein und greifen zu Prothesen, um das Mitleid der Menschen zu erwecken. Fred wendet das Mittel des künstlichen Gliedes im Sonett Das Holzbein des Teils Kapital an, um in einem Kaufhaus zu stehlen:

Fred hatte sich ein Holzbein vorgeschnallt Und hockt am Kaufhaus, wo die Droschken stehn. Nach hinten greift er mit den freien Zeh'n. Es reicht der Freund ihm aus dem Kellerspalt. (121)

Die ganze Welt, ohne Landesgrenze, wird von den zwei Übeltätern einbezogen, die ihre hinterlistigen Fallen auf internationalem Gebiet aufstellen, um den Wirkungskreis auszudehnen, trotz des häufigen Hinweises auf die europäische Wirklichkeit der Vorkriegszeit. Mit den Kriminalsonetten haben Rubiner, Eisenlohr und Hahn die Absicht, nicht nur die europäische Gesellschaft ironisch anzuklagen, sondern die Menschengesellschaft im Allgemeinen, die am Vorabend des Krieges ihre Kapitalanlagen verstärkt und an der Börse spekuliert.

Die Kriminalsonette tragen zur lyrischen Revolution gegen das feste Schema bei, dessen maßgebender Vertreter Stefan George ist. Die Expressionisten streben nach der Befreiung von jedem Zwang, von der Metrik und auch vom klassisch-romantischen Schema, das den deutlichsten Ausdruck in der schönen Sprache des bürgerlichen Dichters hat. (122) Der dynamische Inhalt der Kriminalhandlung, die den ulkigen und grotesken Aspekt verbindet, wird in kanonischer und linearer Form des Sonetts zusammengedrängt. Das Sonett ist in zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilern angeordnet; es wird in diesem Fall nicht benutzt, um introspektive Themen zu behandeln, sondern um soziale Themen zu kritisieren. Das Schema ist frei, abgesehen von dem ersten Vierzeiler, der im Kreuzreim ABBA steht. Die metrische Stellung hängt mit der Absicht der drei Autoren zusammen, den umstürzlerischen Schwung der literarischen Provokation zu erhöhen. Im Sonett Die Schreckenskammer, zum Beispiel, verursacht das Wort Napolium, das in seiner doppelten Bedeutung als Sprengstoff, Napalm, und als historisch-kulturelle Erinnerung an den französischen Kaiser Napoleon, zu verstehen ist, die Analogie zum substantivierten Verb des vorhergehenden Verses Das Bein-dreh-dich-um, mit dem Adjektiv stumm des letzten Verses des ersten Vierzeilers und dem Substantiv Wachspanoptikum des ersten Verses. Die Wortschrulle befolgt so die Strenge des Versbaus.

Die Kriminalsonette stellen im Wesentlichen eine Phantasiewelt dar, die von Gegenständen und Personen lebt; sie nehmen feste Formen mit dem lexikalischen Paradox an. Die Gewalt der poetischen Sprache will den Sozial-, Staats – und Wirtschaftsgefügen und den Werten der zeitgenössischen Gesellschaft einen harten Schlag zufügen, wie der Reim Volksidol-Pol des Schlusssonetts zeigt, mit dem die spöttische Wirkung übertragen wie von einem bis zum anderen Ende der Erde reicht:

Fred surrt auf kleinen Röllchen nach dem Pol; Der Freund, am andern, sitzt auf allen Vieren. Sie spiegeln sich als deutsches Volksidol. (123)

(120) Werner Dürrson, Es ist nicht mehr Zeit, zu betrachten, ibid., S.96.

(121) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.12.

(122) Albert Soergel, Curt Hohoff, Dichtung und Dichter der Zeit. Von Naturalismus bis zur Gegenwart, August Bagel, Düsseldorf, 1964, S.140.

(123) Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn, ibid., S.53.




Der Aufstand. Pantomime für das Kino

1913 schreibt Rubiner die Pantomime für den Stummfilm Der Aufstand (124) die in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Sammlung Das Kinobuch (Leipzig 1914) enthalten ist.

Die Anthologie beinhaltet fünfzehn Kinostücke junger Autoren: Richard Bermann, Walter Hasenclever, Frantisek Langer, Else Lasker-Schüler, Philipp Keller, Elsa Asenijeff, Max Brod, Julie Jolowicz, Albert Ehrenstein, Otto Pick, Paul Zech, Arnold Höllriegel, Heinrich Lautensack und Franz Blei. Mit dem Text Die verrückte Lokomotive oder Abenteuer einer Hochzeitsfahrt hat Pinthus selbst zu seiner Sammlung beigetragen.

Im Vorwort der Neuauflage von 1963 erinnert sich Pinthus, wie es zur Idee der Anthologie kam: unter der Führung des Dichters Theodor Däubler unternahm er, zusammen mit anderen Dichtern, einen Ausflug nach Dessau. In einem „Schlauchkino“ (125) besuchen sie die Filmaufführung eines Romans von Otto Pietsch Das Abenteuer der Lady Glane (1913). Der Film gab ihnen Anlass, über den damaligen Stummfilm zu diskutieren, der das Theaterdrama und den Roman nachzuahmen beabsichtigte.

(124) Das Manuskript befindet sich in der Münchner Stadtbibliothek - Monacensia.

(125) Schlauchkino bezeichnet ein in leerstehende dunkle, lange Läden eingebautes Kino. Vgl. Kurt Pinthus, Das Kinobuch, Arche, Zürich, 1963, S.9.

Kurt Pinthus verfasst das Kinobuch mit der Absicht, den Film als neues künstlerisches Ausdrucksmittel gegenüber dem Theater zu behaupten. Er bat fünfzehn Autoren seiner Zeit, Kinostücke zu schreiben, die sich aber von literarischen Texten kaum unterschieden. Die Stücke wirkten recht steif und waren weit entfernt vom Entwurf von Drehbüchern, die der Dynamik der Szenenfolge innerhalb einer Sequenz und der Verknüpfung der Geschehnisse angepasst werden. Pinthus war seiner Zeit voraus: das Kinostück hätte, nach seiner Vorstellung, Staunen, Bewegung und unbegrenzte Räumlichkeit ausdrücken sollen. Seine Anthologie wurde von der Kritik nicht immer positiv aufgenommen.

In seinem Buch Der Weg des Films (1956) schätzt Friedrich von Zglinicki Pinthus Anthologie positiv ein (126) und bezeichnet ihn und seine jungen Mitarbeiter als Vorläufer des modernen Films, weil sie die literarische Sprache mit einer außergewöhnlichen visuellen Phantasie verbinden können.

(126) Friedrich von Zglinicki, Der Weg des Films, Rembrandt, Berlin, 1956, S.382.

Bis etwa 1910 blieb die deutsche Filmproduktion unbedeutend. Die Anfänge des deutschen Films wurden durch die Filme der dänischen Schauspielerin Asta Nielsen geprägt, als Produktionsgelände wurde ein Areal in Babelsberg gewählt. Im ersten Weltkrieg änderte sich die Situation, als die Konkurrenz der ausländischen, vor allem amerikanischen Filme wegfiel. Neue technische Möglichkeiten der Kamera wurden erforscht, um die Bedürfnisse der politischen, patriotischen Propaganda zu erfüllen.

Mit dem steigenden Einfluss des Films als neues Massenmedium fingen auch Theaterschauspieler an, sich für den Film zu engagieren: Albert Bassermann spielte in dem Autorenfilm Der Andere (1913) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Paul Lindau, Paul Wegener in dem Film Der Student von Prag (1913), der weltweit als erster deutscher Kunstfilm gilt. 1913 inszenierte der Berliner Theaterregisseur Max Reinhardt Eine venetianische Nacht nach dem Drama des Dichters Karl Vollmöller. Das deutsche Theater erlebte dank den kraftvollen Leistungen Reinhardts auf der Schaubühne und seinem Engagement für das Filmmedium, sowohl als Regisseur als auch als Produzent, eine neue Blütezeit. 1913 schloss er einen Vertrag mit der Berliner Projektion - A.G. UNION (PAGU) des Filmproduzenten Paul Davidson.

Die anfängliche Zurückhaltung gegenüber dem neuen Medium löste sich schnell und wandelte sich in Zustimmung - der Film wurde als Form künstlerischen Ausdrucks begrüßt. Immer mehr Theaterautoren und Romanschriftsteller ließen sich von der Experimentierfreudigkeit der Filmproduktion anstecken oder sie stimmten der Verfilmung ihrer Werke zu. In Berlin (Babelsberg, Tempelhof) wurden die ersten Filmstudios eröffnet, in Großstädten verbreiteten sich Kinos als neue Orte der Volksunterhaltung.

1907 wurden die kulturellen Forderungen an die Filmindustrie durch die umstrittene Kinoreformbewegung (127) zum Ausdruck gebracht. 1912 bildete sich eine pädagogische Kommission, die einen starken Einfluss auf die Reform des Films ausübte. Die Kinoreformbewegung wurde von verschiedenen Gruppierungen kultureller Zielsetzung gefördert und setzte sich für die moralisch-ästhetischen Werte des Films ein. Die Kinoreformer plädierten gegen die Unmoral des Films, der literarische Meisterwerke nicht originaltreu verfilmte und das Vorbild verfälschte. Der Austausch von Literatur und Film musste noch in Gang gebracht werden.

(127) Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1984, S.24.

Rubiners Beitrag zum Kinobuch war die Pantomime Der Aufstand. Er schildert das Bild einer Gesellschaft, die von sozialen wie privaten Konflikten zerrissen ist. Die Verstrickungen der Personen in den Aufruhr der Arbeiter der Betriebe, in Liebesaffären, Eifersuchtsdramen, Entführungen und Bestechungen bilden die Handlung der Pantomime. Die Pantomime umfasst neunzehn nummerierte Szenen und einige Zwischenszenen und untergliedert sich in drei Teile: Die Auflehnung, Die Flucht und Der Aufstand. Sie ist insgesamt sehr typisch für den Expressionismus. Die Hauptfiguren haben keine Namen und werden durch ihre soziale oder private Rolle repräsentiert: der Familienkern besteht aus dem reichen Fabrikbesitzer, seinem Sohn und der Geliebten des Reichen, Soldaten und der Offizier sind die Vertreter der bestehenden Ordnung, Bettler bilden das Volk und Streikende sind die Aufrührer. Das Thema des Vater-Sohn-Konflikts wird nicht nur als Familiendrama sondern auch als Machtkampf dargestellt.

Der Sohn rebelliert gegen seinen autoritären Vater und stellt sich auf der Seite der Arbeiter. Der Führer des Volkes ist ein verkrüppelter Mann - der Bucklige - der das Autoritätsprinzip verkörpert. Rubiner bezeichnet den Buckligen als sehr beweglich (128) und seine aufgewühlte Beweglichkeit nimmt groteske Züge an, angesichts seiner Körperbehinderung. Die Pantomime beginnt mit der Auflehnung der Arbeiter, die auf den Straßen demonstrieren. Sie kommen beim Schloss des Reichen an, der von seiner Residenz aus die Stadt überwacht, und lassen sich von vier Abgeordneten vertreten. Ein Diener kündigt ihre Ankunft an:

1) Der Streik. Vor der Fabrik des Reichen. Frauen, Kinder, Bettler vor den Toren. Arbeiter kommen in langem Zug. Man hindert sie, in die Fabrik einzutreten. Bitten. Drohungen. Einige dringen trotzdem durch das Gewühl in die Fabrik. Der Zug der Arbeiter mit einer Fahne, Streik' durch die Straßen. 2) Der Reiche bewohnt ein großes Schloß. Vom Schloß eine breite Treppe, die hinab in den Park führt; oben am Ende der Treppe eine Terrasse. Schloß und Park sind von einer Mauer umgeben, die ein großes Gittertor hat. Durch die Gitterstäbe sieht man die Stadt. Die Masse der Streikenden, geführt von dem Buckligen, erscheint hinter dem Gittertor. Ein alter Diener, erschreckt, verhandelt mit ihnen. Er läuft ins Schloß, um den Reichen zu fragen. Der Bucklige winkt: vier Streikende treten als Abordnung vor. (129)

In der dritten Szene treten die Geliebte des Reichen und der Sohn vor. Sie identifiziert sich mit dem Luxuszimmer, das ihr im Schloss des Reichen zusteht. Der Sohn konkurriert mit dem Vater um die Geliebte, die seine Gefühle zu erwidern scheint. Der Junge nutzt die Gelegenheit, gegen den Vater zu rebellieren, als die vom Buckligen angeführten Arbeiter im Schloss ankommen. Der Bucklige lässt sich vom Reichen nicht bestechen, sein sicheres Auftreten als Anführer der Revolte überzeugt den Sohn, - er beschließt, sich für die Sache der Arbeiter einzusetzen. Der Vater versucht ihn zur Ordnung zu rufen, seine Macht wird durch den Offizier und die Soldaten verstärkt, die in einem militärischen Marsch Richtung Schloss aufbrechen und den Reichen und die anderen Anwesenden mit Paradeübungen begrüßen:

3) Das Zimmer der Geliebten im Schloß. Aus einem Fenster übersieht man Terrasse, Treppe, Park und Mauer. Die Geliebte des Reichen liegt auf vielen Kissen. Der Reiche umwirbt sie, küßt sie, bindet ihr den Schuh. [...] Der Sohn des Reichen tritt ein. Er liebt die Geliebte des Vaters. Die Geliebte, scheinbar unbemerkt vom Vater, gibt ihm halb versprechende Blicke. (130)

(128) Ludwig Rubiner, Der Aufstand, in Kurt Pinthus, Das Kinobuch, ibid., S.105.

(129) Ludwig Rubiner, ibid., S.105-106.

(130) Ludwig Rubiner, ibid., S.106.

In der vierten, fünften und sechsten Szene wird die Rolle der Geliebten aufgedeckt, die doppeltes Spiel treibt. Sie verlässt das Schloss, um zum Flussufer zu gelangen. Das Volk sammelt sich in der Gegend am Fluss, um sich die Beute zu teilen, der Bucklige verteilt die Waffen und befiehlt allen, zu verschwinden, sobald er das Auto der Geliebten sieht. Er umwirbt sie, sie geht auf seine Avancen ein und wirbelt in einem wilden Tanz umher.

Im zweiten Teil - Die Flucht – wird ein Maskenball organisiert. Der Sohn weigert sich daran teilzunehmen und verliert sich in einer romantischen Schwärmerei. Seine Wunschvorstellung verklärt die umliegende Realität in seinen Augen, er blickt verzückt in den Nachthimmel einen Stern an. Er will mit der Geliebten fliehen, die nach einigem Zögern einwilligt, das Schloss in Feststimmung zu verlassen:

7) Abend im Schloßhof vor der Treppe. Die hohen Fenster hell beleuchtet. Im Schloß gibt der Reiche ein Fest. Wagen fahren am Gittertor vorbei, Gäste in Masken hüpfen in den Hof, Diener führen sie herauf ins Schloß. Der Sohn des Reichen liegt unter einem Baum, unmaskiert. Ein Diener kommt, ihn ins Schloß zu bitten. Er lehnt ab... […] Der Sohn erhebt sich, droht gegen das Haus. Es ist Nacht. Er sieht auf den Himmel. Die Gebäude und Bäume verschwinden langsam. Alle Helligkeit zieht sich in einen einzigen leuchtenden Punkt zusammen. Der Sohn steht vor einem Nachthimmel, auf dem nur ein einziger Stern steht. Man sieht nur sein nach oben gewendetes Gesicht... in der Höhe den Stern. (131)

Der Sohn und die Geliebte erreichen das Haus des Buckligen, der sich in Gesellschaft von allerlei zerlumpten Gesindel befindet. Sie treten ein und der Bucklige tritt in seinem elenden, baufälligen Haus als der König der Bedürftigen vor:

9) Der Bucklige sitzt im Hintergrund an der Wand auf einem sehr hohen, thronartigen Sessel, unbeweglich. An der Wand neben ihm eine große Fackel. Man klopft an die Außentür. (132)

(131) Ludwig Rubiner, ibid., S.108.

(132) Ludwig Rubiner, ibid., S.109.

In einer Zwischenszene erkennt man die Gleichzeitigkeit der Ereignisse: die Geliebte und der Sohn werden von einem Jungen ins Haus geführt. Der Sohn erklärt sich solidarisch mit dieser Clique von Außenseitern und diese Sympathie ihnen gegenüber drückt seine Rebellion gegen den Vater aus. Mit einer Fackel gibt der Bucklige seinen Mitstreitern das Zeichen, gegen eine andere Gruppe von Männern, die kamen, anzustürmen, um sie auszuplündern und zu töten. Die Leichen werden in einem großen Loch inmitten des Raumes entsorgt. Nach einer Rauferei mit dem Buckligen schafft es der Sohn, seinen Rivalen zu entmachten und niederzuschießen. Er imponiert der Geliebten aber kann sich nicht so verhalten wie der Bucklige, weil er nicht von mörderischer Machtgier beseelt ist.

Der dritte und letzte Teil der Pantomime - Der Aufstand – spielt wieder im Schloss des Reichen. Mitten im Fest kommen Streikende und Bettler. Die elektrische Leitung wird unterbrochen, um die Belagerung der Residenz des Reichen zu ermöglichen. Der Sohn übernimmt das Kommando einer Schar Aufständischer und hetzt die Stadt zum Aufruhr auf. In den Fabriken zerstören sie die Maschinen, danach belagern sie das Schloss und töten die Gäste. Der Reiche flieht, sobald er den Sohn als Führer der Rebellen sieht.

Der Reiche, der Offizier und die Soldaten ziehen an der Spitze des Heeres und bewegen sich in die Richtung des Hauses des Buckligen, wo der Sohn und die Geliebte Zuflucht finden. Das Militär setzt das Haus in Brand, der Sohn und die Geliebte bringen sich im Kellergeschoss in Sicherheit und sie gelangen zum Ausgang eines unterirdischen Ganges, der von Sternenschein erleuchtet ist. Auch der Reiche und der Offizier entdecken den Geheimzugang zum Keller.

Der Sohn und die Geliebte kommen aus dem Versteck heraus und sie erreichen mühsam den Fluss. Der Reiche und der Offizier stürmen auf sie zu, im Kampf bringt der Sohn den Vater um und der Offizier schießt den Sohn nieder, er rettet aber die Geliebte, die ihn tückisch umgarnt. Sie zwingt mit ihrer Machtgier den Soldaten und dem Offizier ihre Führung auf.

Typisch für die Thematik der Pantomime und den Zeitgeist des Expressionismus stehen der private Konflikt zwischen dem reichen Vater und dem rebellischen Sohn und der soziale Aufruhr der Arbeiterklasse mit ihrem Wirkungsfeld in den Fabriken der Stadt. Der Sohn ist ein sentimentaler Idealist aus bürgerlichen Verhältnissen, der aufgrund seiner emotionalen Bindung zur Sache der Arbeiter weder zu sozialem Fortschritt noch zu einer menschlichen Entwicklung beiträgt. Die zwischenmenschlichen und die sozialen Beziehungen bleiben statisch, weil sie von den alten Herrschaftsverhältnissen abgebildet werden. Rubiner beschreibt mit burleskem Anstrich eine Gesellschaft, die nach sozialem Aufstieg und individueller Erlösung strebt und die stattdessen, wegen der festen Verankerung in alte mentale Muster, zum Scheitern verurteilt ist.

Der Autor benutzt die Mittel der Übertreibung bis ins Grotesk-Wahnhafte, lässt das Volk und seine Rechte von einem Verkrüppelten repräsentieren und macht auf diese Weise auf die gesellschaftlichen Forderungen und politischen Verhältnisse der damaligen Zeit aufmerksam. Das Ergebnis ist eine verzerrte Darstellung des Kampfes zwischen den gesellschaftlichen Klassen, der Oberschicht und der Arbeiterklasse. Die Ironie des Autors macht vor keiner der Figuren halt, die wie Marionetten vor einem Hintergrund voller Symbolik und Abstraktion auftreten und in eine beschleunigte Aufeinanderfolge von waghalsigen Ereignissen verstrickt werden.

Die Flucht des Sohnes aus seinem bürgerlichen Haus, der befehlshabende Offizier, der die Soldaten im Kampf gegen den Streik kommandiert, der Bucklige, der in seiner Schreckenshöhle wie ein König an der Spitze einer zerlumpten Gefolgschaft thront, bilden das Szenario der Pantomime, die mit dem Triumph der herrschsüchtigen Frau über das Militär endet. Das Führungsprinzip weicht ironischerweise einem Spiel von Verführung und Hinterlistigkeit.

Rubiners behandelt in der Pantomime Themen, die von späteren Filmemachern wieder aufgenommen werden. Parallelen zum Buckligen im Stummfilm Sumurun (1920) von Ernst Lubitsch, zur Zweiklassengesellschaft im Stummfilm Metropolis (1925-1926) von Fritz Lang und zur Liebesaffäre zwischen dem angesehenen Lehrer mit der lasziven Tänzerin im Spielfilm Der blaue Engel (1929-1930) von Josef von Sternberg sind eindeutig.




Das himmlische Licht: eine kosmisch-aktivistische Reise

1916 erschien der Gedichtzyklus Das himmlische Licht, der zehn Gedichte umfasst und Ferdinand Hardekopf gewidmet ist. Rubiner legte sein lyrisches Werk in der von Kurt Wolff in Leipzig editierten expressionistischen Reihe Der jüngste Tag vor und veröffentlicht es im gleichen Jahr in den Weißen Blättern. Das Werk erhielt positive Besprechungen (133): „Ein kleines Heft von hohen Gaben ist erschienen. Das himmlische Licht von Ludwig Rubiner“.

Mit seiner lyrischen Produktion folgte Rubiner dem Ideal der aktivistischen Literatur, ein Ideal, das er 1913 im kurzen Essay Lyrische Erfahrungen herausgearbeitet hatte. Expressionistische Dichtung ist von seiner aktivistischen Einstellung zur Poesie als Ideendichtung (134) nicht zu trennen. Sie geht aus seiner Subjektivität hervor, schafft eine visionäre Darstellung und ruft gleichzeitig zur Menschenverbrüderung auf.

Der mächtige Ausbruch des Vulkans Krakatao in Indonesien, der sich 1883 ereignete, inspirierte ihn zu seinem Gedichtzyklus. Er bezieht sich darauf im Eröffnungsgedicht, das die Überschrift des gesamten Gedichtbandes trägt:

Die kleine Kraterinsel Krakatao stieß den brennenden Atem Gottes aus der Erde. (135)

(133) Oskar Loerke, Literarische Chronik zu: Das himmlische Licht, Die neue Rundschau, 1917, S.1280.

(134) Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.359.

(135) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, Die weißen Blätter, 1916, S.91.

In seinem 1916 veröffentlichten Aufsatz Die Änderung der Welt bezeichnete Rubiner die Vulkaneruption als „ein sehr grosses Erlebnis“ und stellt einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen seiner lyrischen und essayistischen Produktion her:

Im Jahr 1882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft. Viele hunderttausend Menschen wurden von der Flutwelle getötet. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren. (136)

Das Naturereignis ist symbolisch für „das himmlische Licht“, für die Erweckung des menschlichen Geistes, für die Aufforderung zur Erlösung vom Irdischen, die die Verheißung eines Neuanfangs mit sich bringt. Wie die Erde von Erdstößen erschüttert wird, so wird die Gesellschaft durch das Erwachen des Geistes ins Wanken gebracht und hemmende materielle Interessen bersten. Für Rubiner repräsentiert das glühende Magma am Horizont das himmlische Licht und ist Ausdruck eines metaphysischen Phänomens, das die ganze Menschheit in einen universellen Erlösungsplan mit einbezieht. Durch die emotionale Anteilnahme des Autors an der Naturkatastrophe steigert sich seine Auflehnung gegen das materialistische Zeitalter in eine kosmische Vision religiöser Spiritualität.

Das Zentralthema der zehn Gedichte ist die Beschwörung des neuen Menschen. Vom Titel der ersten und letzten Poesie ausgehend, wird das Thema inhaltlich so entfaltet, dass die Geburt des Menschen als Geistwesen und die Ankunft all seines Strebens, die universelle Brüderlichkeit, eine harmonische Einheit bilden. Rubiner vermittelt die moralisch-religiöse Botschaft mit einer im Psalmenstil (137) rhythmischen Prosa, anders aber als in den biblischen Psalmen, wird nicht Gott aufgerufen, sondern der Mensch, der Kamerad:

Kamerad, Sie sitzen in Ihrem Zimmer allein, unter Menschen schweigen Sie still. Aber ich weiß meine stummen Kameraden hunderttausend auf der Welt, zu denen ich reden will. […] O mein Freund, glauben Sie nicht, was ich Ihnen sagen werde, sei neu oder interessant. Alles, was ich Ihnen zurufe, wissen Sie selbst, aber Sie haben es nie aus rundem Mund laut bekannt.

(136) Ludwig Rubiner, Die Änderung der Welt, Das Ziel, 1916, S.107.

(137) Max Herrmann Neisse, Das himmlische Licht, Die weißen Blätter, 1917, S.231.

(138) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.91.

Rubiners Programm der Aktivismus-Bewegung lässt sich unter dem Wort reden zusammenfassen. Nur das Wort kann Widerstand sein (139) und kann Menschen wecken, sie aus ihrer eingekapselten Einsamkeit lösen. Das lyrische Ich wendet sich an den Kameraden, dem es vergessene Werte der Vergangenheit offenbaren will. Die Verbrüderungsdichtung Rubiners ist hymnisch-pathetisch und setzt eine antimaterialistische und mystische Weltvorstellung voraus, die Menschen als kosmische Wesen sieht und die durch die Lichtsymbolik (140) verdeutlicht wird. Schon seit der Antike ist das Licht Sinnbild der Transzendenz, des Göttlichen, das auf die dunkle, ungeistige Erde fällt, um Menschen aus der nächtlichen Dunkelheit ihres Lebens zur Helligkeit des Tages zu führen.

Die rotglühende Lava des Vulkans steht für das Wissen um die göttliche Abstammung des Menschen, stellt das schöpferische Element dar, das die Entstehung der Welt in Form eines kosmologischen Mythos erzählt und durch den Übergang von der Dunkelheit zur Helligkeit den Sieg von Gut über Böse nach manichäischer Vorstellung ausruft, wo das gute Prinzip des Lichts geistig ist und das böse Prinzip der Materie zur Finsternis gehört:

Vor unsrer Geburt, in der grünen Südsee platzte die Erde und das Wasser, Tausend Menschen saßen wie Schnecken auf großen Blättern in Hütten und versanken keuchend. Vor Marseille fielen die roten Schiffe um, das Meer schlug vom Mond herab. Die Dampfer schnurrten in den Abgrund, lächerliche Insekten. Als wir geboren wurden, zog Feuer durch die Luft. Die Schwärme des Feuers flogen um die Erde. Weh, wer nicht sehen wollte! Tausend Menschen, still heckende Schnecken, waren zu Staub zerplatzt. […] Berlin, aus spitzen Plätzen, grauen Nebenstraßen, quoll das Blau der Vulkane. (141)

Rubiner greift auf religiöse Symbole zurück, um den Effekt des mystischen Lichtes und der Finsternis - wie in Dantes Epos (142) Die göttliche Komödie - zu unterstreichen und um die Völker der Erde in der messianischen Hoffnung zu bestärken. Obwohl er sich auf Berlin bezieht z. B. die Friedrichstraße fiel zu Boden (143), Berlin, Ihr dachtet an Geld (144), hat die ganze Welt ohne Begrenzungen und Ländergrenzen an der göttlichen Verkündigung teil:

Boston, Chicago, über nackte Arme und Zylinderhüte hin zischt das Licht wie Riesenfunken von elektrischen Schnellbahnen. (145)

Über Dantes Einfluss auf Rubiner gibt der Brief vom 29. März 1918 an Busoni aus Muralto (Locarno) Aufschluss:

Ich habe mich am Paradiso wahrhaft aufrechterhalten. Und ich glaube, gerade das Paradiso war während des ganzen 19. Jhdts. als langweilig verrufen, nur darum, weil es voll von der ungeheuersten Weisheit ist, die freilich den Herren Naturwissenschaftlern zu mühevoll ist. […] „L’amor che muove il Sole e le altre stelle“ – um nur das Einfachste zu nennen. […] „Der Mensch“, schrieben Sie mir neulich, „ist dumm und schlecht“. Nur, solange die eine Partei oder die andere siegt, mir brutaler, gemeiner Blutgewalt, mit Gift und mit niederträchtiger List. Dante hat mich auch hier aufgerichtet, und ich weiss von ihm, was ich von mir schon lange wusste, dass der Mensch von Gott abstammt, und nicht von naturwissenschaftlichen Zellen oder von Giftgasen. Ich acceptiere aber völlig Ihr Wort, mit einem kleinen Zusatz: Der Mensch ist heute dumm und schlecht. Folglich ist er verpflichtet morgen weise und heilig zu werden. - Ich glaube nicht an eine „Entwicklung“, noch weniger an eine „Entwicklung zum Bessern“ und erst recht nicht an einen „Fortschritt“. Ich glaube aber, dass es gute und böse Zeiten giebt, materielle und geistige [unlesbar]. Auf den Erfolg, à la Wertheim = Rathenau, kommt es garnicht an! Sondern nur auf das, was man für wahr erkannt hat. (146)

(139) Nicole Billeter, Worte machen gegen die Schändung des Geistes! Kriegsansichten von Literaten in der Schweizer Emigration 1914/1918, Peter Lang, Bern, 2005, S.237.

(140) Karl-Heinz Hucke, Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, Max Niemeyer, Tübingen, 1980, S.16.

(141) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.92.

(142) Max Herrmann Neisse, Das himmlische Licht, ibid., S.231.

(143) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.93.

(144) Ludwig Rubiner, ibid., S.94.

(145) Ludwig Rubiner, ibid., S.96.

(146) Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin. Zitiert nach dem Original.

Das himmlische Licht und die moralische und rationale Kraft der Menschen bilden die Koordinaten dieser dynamischen Weltvorstellung. Die eruptive Gewalt des Vulkans ist sowohl eine Metapher für den Geist als mystische Offenbarung als auch für den Aufruhr der Masse gegen die soziale Ordnung. Das Ausgeliefertsein der Menschen an ihre geistige Trägheit, an ihre Passivität wird im Weltuntergangston ausgedrückt:

Die Menschen schwitzen blind. Die Dächer rollten auf in Angst und sanken zurück. Die Fenster troffen dunkel trüb, Die Häuser blähten grau löckerig Teigwände. Menschen, Ihr lagt in den Städten wie gärende Wasserpflanzen. (147)

Um den Elan des Lebens auszudrücken, benutzt Rubiner die Langzeile wie der amerikanische Dichter Walt Whitman: der Text dehnt sich grenzenlos aus, um den mystischen Vitalismus und die fortwährende Dynamik in den Großstädten der Welt wiederzugeben. Worthäufungen und ein pathetisch-visionärer Wortschatz tragen zu einer Dynamisierung der Sprache und zu einem ausgesprochenen Intensivierungseffekt bei; durch die Verwendung anthropomorphischer Metaphern werden leblose Dinge menschengestaltig dargestellt, z. B. Die Häuser blähten grau löckerig Teigwände, neue grammatikalische Konstruktionen entstehen ohne logischen Zusammenhang, z. B. Die Fenster troffen dunkel trüb oder Ihre Worte, einzeln und dünn, tropften ab wie Perlengekicher (148). Die Gedichte zeichnen sich durch ihre Bildhaftigkeit aus und das Ausdrucksvolle der expressionistischen Lyrik zeigt sich auf der sprachlichen, bildlichen und metrischen Ebene mit ausdruckstarken Wortneuschöpfungen, mit einer hymnenhaften Sprache und mit redundanten Langzeilen, die sich einer rhythmisierten Prosa nähern, in der der Reim kaum zu erkennen ist.

Im vierten Gedicht Dieser Nachmittag lässt sich die metaphysische Sehnsucht nach der Erleuchtung zeitlich festlegen und in einer ewigen Gegenwart, im Hier und Jetzt, mit allen Wesen der Erde, umsetzen. Die Ambivalenz der Licht-Dunkelmetaphorik (149) dient dazu, die Opposition zwischen der Ankündigung einer neuen Ära und dem Voranmarschieren einer Kolonne von unsicheren, anonymen, verwesenden Menschen zu unterstreichen, die die Kraft aus der Erde nehmen, wo sie vor sich hinleben, und aufbrechen, um zum Licht aufzufahren:

Die Erde erhebt das Haupt der Bleichen, O unsichrer Marsch der Halbtoten, Nächtigen, ewig Versteckten. Blaßweiße Wurzelmienen, o Letzte, Unterste, Sarglose, ewig Halbeingegraben in kalten saugenden Dreck, tastender Zug in spähender Unsicherheit, die Nacht ist nicht da, sie dürfen sehen. Sie sehen. (150)

Zu erkennen ist auch, dass Rubiner in dieser Utopie allgemein an den Mob appelliert, an eine undefinierte, entpolitisierte Masse, die einen Erlösungsprozess gehen soll. Die Begegnung mit dem himmlischen Licht befreit sie, wirkt in ihr, fordert sie zu neuen spirituellen Wegen heraus. In dieser Aufforderung zum Aufbruch kann man eine Anspielung auf die zukünftige soziale Auflehnung der Arbeiterklasse sehen, aber der Nachdruck liegt vor allem auf der inneren Erneuerung des Menschen. Die metaphorische Sprache der Bibel und Metaphern aus dem tierischen wie auch aus dem pflanzlichen Bereich werden für die Beschreibung der korrupten Gesellschaft und der herbeigewünschten Gemeinschaft angewandt; jedoch findet diese Verwendung keine Fortsetzung in einem politischen Kontext:

Das himmlische Licht bergan schmolz mild zur rötlichen Kugel halb hinter Dächern auf. Es war eine Orange, wie in dem vornehmen, betteln verboten, Eßwarenverkauf, Es war ein wildes Zehnmarkstück wie hinter dem Fenster der Wechselbank, Ein rotes rundes Glas Bier aus einem Aschingerschank, Ein Schinken, ein Mund, Weiberbrust, ein Hut mit 'nem Band, ein Loch das rot klafft, Ein weiches buntes Kissen. Ein Vogel im Käfig. […] Aber heut hatte ihnen das Licht süß bis in den Magen geleckt. […] Sie marschierten rund über die Erde. Nun gab es ewig Musik und warmes Essen und das tausendjährige Reich! (151)

(147) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.97.

(148) Ludwig Rubiner, ibid., S.109.

(149) Karl-Heinz Hucke, Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, ibid., S.186.

(150) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.98.

(151) Ludwig Rubiner, ibid., S.99-100.

Abgesehen vom politischen und sozialen Diskurs stellt Rubiner das himmlische Licht in einem utopischen Szenario dar und die Erleuchtung ist die Belohnung für den Glauben an den Geist, den die Menschen wie zum Genuss weltlicher Güter (Musik, Essen) kosten können.

Die feindliche Erde ist der Titel der fünften Poesie und kennzeichnet den Widerstand gegen die Verwirklichung der Utopie. Die Prophezeiung der millenaristischen Hoffnung wird durch den antithetischen Parallelismus – die Teilnahmslosigkeit der Menschen am Leben des Geistes - wie in einem Psalm betont. Rubiner identifiziert das Übel der Menschheit mit der geistigen Lethargie, die wie eine Naturkraft ausbricht:

Der Eiter der Erde lag in den Häusern. Unter hellen Lichtern saßen schmatzende Jobber. In Nebenzimmern ragten gelangweilt lange schwarze Strümpfe, trägzuckende Schenkel über schwere geile Rücken. Hinten tanzten vor polierten Klavieren, dunkle Langhaare geigten. […] Die Trägheit schlug an die Ufer, faulende Riesenalgen wanden sich erdenrund um die Schimmelgrüne. Drunten im Trüben schrieben wimmelnde Menschen noch eilige servile Telegramme, Briefe, Denunziationen voll Ranküne. Tänzerinnen, Barone, Agenten, Geheimräte, Schutzleute, Ehefrauen, Studenten, Hauswirte freuten sich auf ihre dampfende Nacht. Aber der arme Mob schaute das Wunder und war zur neuen Zeit aufgewacht. (152)

Der lyrische Appell kommt im Stil des expressionistischen Pathos zum Ausdruck, in einer Verknüpfung der metaphorischen und der agitatorisch-propagandistischen Sprache von politischen Plakaten und Devisen. Auf Langzeilen, die durch eine Aneinanderreihung von Substantiven gekennzeichnet sind und das Massenhafte beschreiben, folgen elliptische Sätze und rhetorisch-pathetische Anrufungen, z. B.: In Japan Köpfe ab. (153) - O kleine Erde, was hast du vergessen! Du feindliche hast das Licht Gottes gefressen. (154)

(152) Ludwig Rubiner, ibid., S.100-101.

(153) Ludwig Rubiner, ibid., S.102.

(154) Ludwig Rubiner, ibid., S.103.

Die Geburt des neuen Menschen verknüpft Rubiner thematisch mit dem Theaterstück Die Gewaltlosen. Dem Untertauchen des Menschen in die Materie wird sein Zusammenhang mit dem Göttlichen entgegengesetzt. Das himmlische Licht, das auf die materialisierte Erde herunterströmt, erleuchtet das Bewusstsein der Menschen und bringt sie langsam zum Heranreifen. Der neue, umgewandelte Mensch, den Rubiner im Gedicht Der Mensch ankündigt, ist der vom Lichte geleitete Lichtmensch, der Führer für jeden Menschen, ein Eingeweihter. Das mystische Licht macht ihn empfänglich für die großen Offenbarungen und seine Stimme erschallt in der Welt zusammen mit der Stimme der Glaubensmenschen, die die Wahrheit des Geistes vernommen haben und der Erde die Kraft geben, ihre Evolution weiterzubringen:

O Mund, der nun spricht, hinschwingend in durchsichtigen Stößen über die gewölbten Meere. O Licht im Menschen an allen Orten der Erde, in den Städten fliegen Stimmen auf wie silberne Speere. […] Aber der Lichtmensch sprüht aus der Todeskruste heraus. In den Fabriken heulen Ventile über die Erde hin. Er hat seine Stimme in tausend Posaunen geschrien. […] Eine Stimme unter den entkräfteten Arbeitern, drei Millionen, die alle Jahr einsam absterben nach neuen Fabriksystemen, […] Eine Stimme las das Flüsterwort: Streik! in den roten Schächten der Coloradominen. […] In Städten schreit sie Signalgeklirr über wirre Versammlungen hin, wo Polizei die Türen bespäht. (155)

Das Gedicht Die Stimme bereitet den Rahmen für die feierliche Ankündigung der Menschwerdung und des Beginns der menschlichen Selbstbestimmung (156). Der Höhepunkt Rubiners Ideendichtung ist die wie eine Apotheose aufsteigende Botschaft des Entwicklungsvorganges der Menschen, die als einzelne Ichs ein Früh-Erlebnis der Erleuchtung haben und bis zur Brüderlichkeit, zum Bund aller Geistwesen fortschreiten. Der Empfänger der Botschaft ist ein kollektives „ihr“, das Gegenüber wird nicht näher bestimmt, wie im letzten Gedicht Die Ankunft deutlich wird. Wie am Anfang wird der Kamerad aufgerufen, das Schweigen zu brechen:

Ihr, die Ihr diese Zeilen nie lesen werden. Dürftige Mädchen, die in ungesehenen Winkeln von Soldaten gebären, […] Ihr Mob, die Ihr klein seid und zu heißen Riesenmassen schwellt, wenn das Wunder durch die Straßen geht, Ihr, die Ihr nichts wißt, nur daß Euer Leben das Letzte ist, Eure Tage sind hungrig und kalt: […] Ihr tragt die Kraft des himmlischen Lichts, das über Dächer in Euer Bleichblut schien. […] Kamerad, Sie dürfen nicht schweigen. O wenn Sie wüßten, wie wir geliebt werden! (157)

(155) Ludwig Rubiner, ibid., S.106-107.

(156) Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.362.

(157) Ludwig Rubiner, Das himmlische Licht, ibid., S.111-113.

Mit seiner Gedichtsammlung entwickelt Rubiner eine Poesie, die keine pädagogische sondern eine programmatische Absicht verfolgt. Die Poesie soll politisch wirken, und zwar zur Tat auffordern und zum Bewusstwerden eigener Verantwortlichkeit führen. Sie ist keine enthusiastische Darstellung des Menschen und der Welt, sondern Beitrag zur Erkenntnis der Notwendigkeit von Veränderungen. Die Gedichte erhalten rhythmischen Schwung und erzeugen einen rauschenden Effekt durch die visionäre Kraft der Bilder und das hymnische Pathos, das sowohl die christliche Hymnenpoesie als auch den politischen Aufruf auszeichnet. Die metrische Form des Dithyrambus drückt die emotionale und rhetorische Kraft des Dichters, die Unmittelbarkeit des Erlebens und das Streben des Menschen nach der Unendlichkeit aus.

Vorbild für Rubiner war der amerikanische Dichter Walt Whitman, der für ihn, wie für andere expressionistische Lyriker, zum Ideal eines kosmopolitischen Menschen- und Weltbildes wurde. Whitman wird von Rubiner im Aufruf Der Bruder (1917) als „ungeheure Liebesstimme für den Menschen“ (158) verehrt. In seinem Gedichtband Leaves of Grass (Grashalme, 1855) thematisierte Whitman die Natur, den Menschen, die Demokratie seines Landes und die Gegenwart; was die metrische Form angeht, wechselt er von Versen, die sich an die Konventionen der alten hymnischen Sprache halten, zum Blankvers. Die Ähnlichkeiten mit Whitman lassen sich ausreichend in der Kombination von realistischen Beschreibungen in seitenlangen Sätzen und beschwörender Anrufung mit humanistischem Pathos und im deklamatorischen Stil nachweisen. Rubiner lässt wie Whitman das Sublime biblischer Anspielungen und die Unmittelbarkeit alltäglicher Ausdrücke in den Versen ineinander übergehen. Vitalistische Naturverehrung und patriotischer Idealismus kennzeichnen Whitmans Gedichte, anders als bei Rubiners Lyrik, in der das Gegenüber nicht die Natur oder seine Heimat ist, sondern die Wandlung des Menschen und der soziale Aufruhr in den Städten. Rubiner registriert Tatsachen mit deklamatorischem Pathos ohne emotionale Anteilnahme, er proklamiert die allgemeine Menschenverbrüderung, die zum Ideal einer klassenlosen Gesellschaft und einer Zukunftsmenschheit des Sozialismus emporsteigt. Im Aufsatz Der Mensch in der Mitte würdigt Rubiner den französischen Dichter Pierre Jean Jouve (1887-1976) und legt zugleich seine Auffassung der Dichtkunst dar:

Jouves Gedichte sind nicht zum Beschauen da. Sie sind da, um den schwachen Menschen zu ändern, zu stärken, zu heilen. Seine Verse sind nicht für die Plastik der Museen oder die Seltenheit der Bibliophilie gemacht. Reimlos, alexandrinerfern; Zeilen sind Schreie in riesenhafte Volksversammlungen; […] Der politische Dichter kommt herauf (wieder, seit Whitman). (159)

(158) Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte, ibid., S.148.

(159) Ludwig Rubiner, ibid.




Die mensch-zentrierte Anschauung im Essay


Der Mensch in der Mitte

Mit dem ideologischen Essayband Der Mensch in der Mitte, der im April 1917 erschien, versammelt Rubiner seine ab 1912 in Zeitschriften veröffentlichten programmatischen Schriften, um eine einheitliche Gestaltung der Inhalte zu erzielen. Der Titel sagt es schon aus: gegenüber dem materialistischen Weltbild mit seinen Dogmen rückte der Mensch mit seinen geistigen Ansprüchen und Rechten in den Mittelpunkt aller Anstrengungen. Rubiner, getrieben von moralischen Überzeugungen, richtet einen Appell an die Menschheit zur Verteidigung der Menschenrechte und zur Achtung der menschlichen Würde und erläutert das theoretische Programm der zukünftigen Gesellschaft, die nicht auf Gerechtigkeit beruhen soll, sondern auf ethischer Verantwortlichkeit.

Im Vorwort drückt Rubiner seine aktivistische Einstellung aus, er beruft sich auf das Jüngste Gericht, das, um es emphatisch zu sagen, als Aufforderung zur Tat anzusehen ist. Handeln zeigt dem Menschen den Weg zu sich selbst, zu seinem Wert:

Täglich dröhnt vor uns das Jüngste Gericht auf. Täglich müssen wir uns dem Gerichtsspruch des Absoluten stellen. Einst war diese Gewissensstunde der Menschheit fürchterlichste Drohung und Henkersangst. Heut ist sie die letzte, die einzige Rettung. […] Das Jüngste Gericht brüllt hinaus zur Welt mit allen Gigantenchören sternzitternder Wunderposaunen den schrillend hellen Schrei: Entscheidung! (160)

Wie auf einem Plakat mit propagandistischen Slogans wird der Inhalt des Sammelbandes aufgestellt: Das Vorbild für die Ereignisse ist der Mensch. Der Mensch ist die Mitte der Welt. (161) Der Schwerpunkt der humanozentrischen Anschauung ist der Aufsatz Legende vom Orient (1916), in dem Rubiner den utopischen Charakter seines aktivistischen Programms mit der Mystik des Chassidismus Martin Bubers verbindet.

(160) Ludwig Rubiner, ibid., S.8.

(161) Ludwig Rubiner, ibid., S.5.

Rubiners Anthologie versteht sich als kritischer Beitrag zur Schrift Bubers Vom Geist des Judentums (1915). Er übernimmt von Buber das Bekenntnis zum Geist und die Verneinung der Seele, die den Drang zur Freiheit ausschließt und die passive Annahme der Realität impliziert. Die Differenzierung Geist-Seele wird im Aufsatz Der Kampf mit dem Engel (1917) spezifiziert:

Die Welt könnte voller Wunder sein. Aber die Seele hält uns von ihnen zurück. Nicht das Geistige des Menschen, nicht sein wollendes Denken in Wirkung wartet auf das Wunder; das Denken tut das Wunder. Sonderlich die Seele wartet auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wunder, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft. (162)

Buber bezieht jedoch seine aktivistische Auffassung auf das jüdische Volk und unterscheidet zwischen dem orientalischen Menschen, dem motorischen, und dem Abendländer, dem sensorischen Menschen. Rubiner fasst die philosophische Konzeption Bubers folgendermaßen zusammen:

Bubers persönliches Verdienst ist es, die Voraussetzungen derer, für die er spricht, ganz außerordentlich gut formuliert zu haben. Die Voraussetzungen seien zwei große, differente Menschentypen. Sie werden der "motorische Mensch" und der "sensorische Mensch" benannt. Der sensorische Mensch sei im Abendländer zu finden, im Europäer, historisch am geprägtesten im Hellenen. Dieser sei der Rezeptive, der Mensch, der seine Umwelt aufnimmt und daraus die Welt findet. Sein Gegensatz, der motorische Mensch, trage unter dem Drucke einer Idee seine Welt in die Umwelt hinein. Der motorische Mensch sei der orientalische Mensch. Der reinste Typus des motorischen Menschen liege im für uns sichtbarsten Typus des Orientalen: im Juden. (163)

(162) Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, Die Aktion 1917, S.230.

(163) Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte, ibid., S.114.

Rubiner hebt die Dichotomie zwischen den zwei Menschentypen auf, und er lässt die Frage offen, ob „wirklich die Begriffe Abendland = Sensorium, und orientalisch = Motor sich decken“. (164) Rubiner geht über diese Definitionen und das Konzeptionelle hinaus und stellt die Entwicklung des handelnden Menschen ohne religiöse Konnotation dar. Er bekennt sich zu einem revolutionären Humanismus und fordert die Heiligkeit der Handlung, die vom Willen des Einzelnen verursacht ist. Die Freiheit des Menschen zur Wahl setzt die Übereinstimmung zwischen den realen Gegebenheiten und der höchsten Instanz, des obersten Prinzips voraus. Er verbindet die Handlung mit der ideellen Vorstellung einer Gemeinschaft, in der der Glaube als gegenseitiges Vertrauen unter den Menschen und als Mittel zur Verherrlichung der Gegenwart sich entfaltet. Die Umsetzung der biblischen Botschaft des Bundes zwischen Gott und dem Menschen in die soziale Wirklichkeit ist von der Überzeugung getragen, dass der Mensch nach seinem Handlungswillen definiert werden kann:

Und vor allem: der handelnde Mensch ist ein öffentlicher Mensch, kein Privatwesen. Ein Mensch des Zusammenhanges, nicht der Isolation. Das sind die Vorbedingungen für die Konstitution des handelnden Menschen. Man kann ihn, wenn man durchaus will, auch „motorisch“ nennen. Ob er Orientale oder Abendländer ist, spielt, wie man sieht, bereits keine Rolle mehr. (165)

(164) Ludwig Rubiner, ibid., S.114-115.

(165) Ludwig Rubiner, ibid., S.115.

Anders als Buber vertritt Rubiner eine verweltlichte Auffassung von Religion und schreibt dem Menschen, und nicht dem Juden, den Willen zu, das Gute zu wählen und die menschliche Solidarität zu fördern. Die polemische Grundeinstellung, die dem Essay zugrunde liegt, ist Rubiners Ablehnung des Zionismus, der zur Abgrenzung der Juden in einer Kultgemeinschaft und zur Verstärkung nationalistischer Gefühle führt. Er bekämpft sowohl die moralische Passivität als auch die individualistische Handlung, die die Isolation des Menschen verursacht:

Der Zionist schiebt alles, was stark, bedeutend - womöglich neu - ist, auf Seite des Orientalen; alles Relativische auf Seite des Okzidents. O Typisierung! Ist es nicht Unrecht, mit Völkern und Jahrtausenden umzuspringen, nur um einige Begriffe zu destillieren? O dünnste aller Legenden! (166)

(166) Ludwig Rubiner, ibid., S.135.

Nach seiner kritischen Auslegung des Zionismus stellt Rubiner die Frage, die aus der Abneigung gegen das Autoritätsprinzip entsteht, sowohl im religiösen, als auch im politischen Sinn, und nicht der Gemeinschaft dient:

Warum, fragt man, nicht der direkte Weg zur Menschheit, warum nicht unmittelbares Bekenntnis, hindernisloses Handhinreichen den Brüdern? warum der versickernde Umweg über das Ghetto eines neuen Nationalismus? (167)

Rubiner vertritt eine radikale Humanisierung; Handeln beinhaltet, nach seiner Vorstellung, ein geistiges Erkennen im metaphysischen Sinne und ist verbunden mit dem Wandel des Universums. In der programmatischen Schrift Homer und Monte Christo (1914), mit der der zweite Teil des Essays – Schöpfungspläne – beginnt, nennt Rubiner den kosmischen Raum und das Licht als Symbole der Koexistenz, in dem der Mensch handelt, nur wenn er sich selbst äußern kann und, aus sich selbst heraus, Menschen werden kann:

Alle Akte unseres Willens sind auf der Raumwelt dieser Erde unlöslich verbunden mit dem Licht. (168)

(167) Ludwig Rubiner, ibid., S.144.

(168) Ludwig Rubiner, ibid., S.51.

Das ekstatische Handeln des Menschen stellt die Selbstverwirklichung der Individualität und seinen Beitrag zur Weltänderung dar. Rubiner zielt nicht darauf, die Identität des aktiven Subjekts zu bestimmen, sondern er deutet auf die Intensität der Handlung, die vom Geist des Menschen ausgeht. Der gesellschaftliche Kontext spielt darum keine Rolle in der Analyse des menschlichen Handelns, das sich grundsätzlich auf die geistige Erneuerung des Einzelnen und der Welt bezieht.

Rubiner beschreibt seine aktivistische Weltanschauung philosophisch und beruft sich auf den Aktualismus oder aktualen Idealismus, der den Akt als Prinzip des Wesens, als das Wertvolle (169) betont. Seine idealistische Auffassung orientiert sich an Hegel, der die Idee als das einzig Wahre postuliert und an Fichtes Begriff des „absoluten Ich“, das das Handelnde und die Handlung in einem darstellt. Die Überschrift des ersten Teils der Anthologie und das Manifest Aktualismus (1916), mit dem sie beginnt, geben einen klaren Hinweis auf die zentrale philosophische Grundlage seiner Überlegungen. Für Rubiner bezeichnet Aktualismus das ethische Wesen des Aktivismus; Aktualismus spricht für die ewige Gegenwärtigkeit des Denkens und Handeln bedeutet Handeln in der Gegenwart, um sie zu würdigen, im Hinblick auf einen ethischen Wert, der an sich positiv ist, weil er jedes Mal einen göttlichen Augenblick weiht und den menschlichen Geist offenbart. Das Nicht-Handeln ist durchaus negativ, weil es die Verletzung des ethischen Prinzips mit sich bringt:

Der Weg, den wir in die Ewigkeit nehmen, muß durch die Jetzigkeit gehen. Der Leib des Menschen ist nur einmalig, aber diese Einmaligkeit ist sein höchster Wert. Je tiefer und vollkommener wir einmalig sind, um so gemeinsamer sind wir allen. Je eindeutiger wir uns entscheiden, um so unendlicher ist unser Handlungsbereich. […] Wenn wir handeln, begehen wir oft Unrecht. Es ist falsch, darum vom Handeln abzulassen. Unsere Vereinzelung, die des Nichthandelnden, begeht viel größeres Unrecht. […] Ohne Güte und ohne das Ziel der Gerechtigkeit gibt es kein Handeln; was man, fälschlich, so nennt, ist nur die automatische, wieder in sich zurückschnappende Bewegung eines angestoßenen Uhrwerkes. Wirkliches Handeln ist aber stets: Handeln für den Geist. (170)

(169) Kurt Hiller, Der Aufbruch zum Paradies, München, Kurt Wolff, 1922, S.30.

(170) Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte, ibid., S.10-11.

Der Imperativ des Aktivismus versteht sich als Unbedingtheit (171) und legt das Prinzip des ethischen Handelns des Menschen fest. Der Akt ist historisch bedingt ein einmaliger, unwiederholbarer Vorgang, drückt eine zeitlose Identität aus, die als ein sich jeweils Einschließendes von Schöpfung und Handlung betrachtet wird, und das Bekannte sowie die vorigen Lebensformen des Geistes verneint. Das Manifest Die Änderung der Welt (1916), mit dem der letzte Teil Die Führung anfängt, besteht aus 16 Pamphleten, in denen Rubiner den Prozess der Erneuerung der Welt beschreibt, an dem der Mensch teilnimmt. Ausgangspunkt ist die Intensität des persönlichen Empfindens:

Für den Geistigen hat Besitz gar keinen Sinn. Er wertet. Er ändert unablässig. Wie sollte er auf die Idee kommen, etwas festhalten zu wollen? Sein Hebeldruck zur Änderung der Welt ist nicht Besitz, sondern die höchste Immaterialität, das stärkste nur Innensein: die Intensität. Alle Änderung der Welt ist Projektion des Geistes auf die Welt. (172)

(171) Ludwig Rubiner, ibid., S.5.

(172) Ludwig Rubiner, Die Änderung der Welt, Das Ziel, 1916, S.103.

Der Titel des Manifests ist programmatisch und deutet die wichtige Rolle an, die das Konzept der Weltveränderung an sich in seinem Denken spielt. Nur der Geist eröffnet dem Menschen die Möglichkeit fortzuschreiten und einen unabhängigen, von alten Konditionierungen freien Standpunkt zum Leben zu entwickeln. Rubiner begreift das Wesen des Menschen als eine Entwicklungsdynamik, die nicht auf konkreten, materiellen, sondern auf intellektuellen, geistigen Voraussetzungen beruht. Im siebten Pamphlet Nieder das Erlebnis bezieht Rubiner die realen Gegebenheiten auf die unablässige Verwandlung und verneint das Erlebnis als Wert, das die Trägheit der vorigen Aktivität des Denkens beweist. Er diskreditiert das Erlebnis als Besitzaberglaube (173), weil es das Vergangene wiederholt, den Willen des Menschen hemmt, ihn von seiner Verantwortlichkeit entbindet und in seiner Entwicklung aufhält.

(173) Ludwig Rubiner, ibid., S.106.

Rubiner erwähnt den französischen Philosophen Henri Bergson, um sich von seiner Philosophie des Lebendigen und von seinem Philosophem des „élan vital“ zu distanzieren. Bergson betrachtet die Wirklichkeit als lebendige Kraft, deren Wesen die Evolution ist, das „élan vital“ bezeichnet den schöpferischen, vollkommenen Prozess des dynamischen Lebens, der nur in der Intuition und nicht in der Logik erkannt werden kann. Bergson unterscheidet zwischen dem Instinkt, der zur Intuition wird, wenn er auf Kunst und Metaphysik gerichtet ist und als höchste Form menschlicher Erkenntnis gilt, und dem Intellekt, der sich logische, wissenschaftliche Systeme ausdenkt und das Handeln der Menschen und seinen Wertmaßstab bestimmt.

Rubiner lehnt diese Unterscheidung strikt ab. Wenn die Tiefe der lebendigen Kraft, die die Grundlage allen Existierenden bildet, nur durch die Intuition erfasst werden kann, wird sich der Mensch des dynamischen Prozesses nicht bewusst, weil er sich mit der schöpferischen Lebenskraft, mit dem „élan vital“ einfühlt. Für Rubiner ist der Begriff der Einfühlung mit dem der Spaltung des Erkenntnisvermögens eng verbunden und impliziert das passive Wahrnehmen des kosmischen Werdens, nicht gefiltert durch den Verstand:

Die sogennante Intuition (man weiss: umfassendste lyrische Begründung vom grossen Praktiker der Einfühlung, Bergson) ist Begriffsmanscherei. Für feine Geniesser, Connoisseurs, Mitmacher: eine Hilfsvorstellung zur Rechtfertigung ihres Schwammdaseins. (174)

Rubiner äußert seine Ablehnung des Empirismus, der sich nur auf Sinneserfahrung gründet, und begreift den Menschen als geistiges Wesen der Freiheit, der Autonomie außerhalb des sozialen und politischen Hintergrundes. Er reduziert die Vergangenheit auf ihre mythologische Essenz, die das Denken als autonome Wirklichkeit voraussetzt, und leugnet die Geschichte als accidens mit dem destruktiven Imperativ der Auflösung: “Zerstört das Gewesene!” (175). Am Anfang steht der universelle Akt, der das Denken schafft und sich weltgeschichtlich manifestiert.

Rubiner konzipiert die Änderung der Welt durch den Geist als eine konstruktive Katastrophe und als Verwirklichung eines göttlichen Schöpfungsplans. Die Geschichte wird auf den Augenblick reduziert, in dem die vergangene menschliche Kondition umgestürzt wird und, auf radikale Weise, neu gedacht wird. Als Kriegsverweigerer schreckt er nicht davor zurück, oft Metaphern der Gewalt in seine Schriften und in seine Dichtung aufzunehmen, um zur Auflehnung aufzurufen, die er als „die Heiligung des Lebens“ (176) proklamiert:

Daß es nicht zu lehren, zu verbessern, zu entwickeln gilt - sondern zu beseitigen. Zu stören. Zu zerstören: Hindernisse zu sprengen; die Klumpen der Materie zur Explosion zu bringen. Auf daß ein Funke, ein Wissen ums Erste, eine Gewißheit vom Geist in uns allen plötzlich und gemeinsam hinaufspringe. (157)

(174) Ludwig Rubiner, ibid., S.108.

(175) Ludwig Rubiner, ibid., S.105.

(176) Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte, ibid., S.7.

(177) Ludwig Rubiner, ibid., S.42.

Im Aufsatz Brief an einen Aufrührer (1913) würdigt Rubiner die Revolution von 1848 als Protest-Datum (178) und deren demokratische Leitideen, und gestaltet die historische Einordnung seiner aktivistischen Auffassung als Ausdruck des freien Geistes. Obwohl er sich ausdrücklich auf das revolutionäre Geschehen bezieht, wird der Begriff der Unabhängigkeitserhebung aber im nicht-historischen Kontext gebraucht; es dominiert die vitalistische Darstellung eines Aufstandes, der zu einem spontanen Drang zur Katastrophe und zur Zerstörung verklärt wird und, auf diese Weise, den utopischen Charakter Rubiners Vorstellungen zeigt. Die Metapher des zerstörerischen Aktes trägt eine Botschaft in sich: sie richtet sich gegen die wilhelminische Epoche und ihren Autoritarismus und bezeichnet zugleich die aufständische Kraft des Urhebers ihres Untergangs, des Rebellen, der hinter einer vagen, nicht näher bezeichneten sozialen Identität hervortritt und sich durchsetzt.

In diesem humanspezifischen Kontext lässt sich das Denken als Akt, als Prozess des Werdens verstehen und der freie Geist zeigt die schöpferische Natur des Aktes des Denkens und bezeichnet somit sein Selbstbewusstsein im autonomen Denken. Rubiners philosophische humanozentrische Grundhaltung impliziert die Hervorhebung des Höheren Selbst des Menschen, die Anwesenheit Gottes im Menschen, jenseits jeder religiösen Doktrin oder Dogmatik. Der Geist ist nicht mehr eine nicht-rationale, enthusiastische (179) von Gott inspirierte Kondition, sondern behauptet den Akt als Imperativ des ethischen Soll. Der reine Akt des Geistes stellt ein absolutes Prinzip dar, der sich als Wirklichkeit setzt, und offenbart sich in den Handlungen des Menschen.

Die Befreiung des Einzelnen von den materialistischen Zwängen der Gesellschaft kennzeichnet, nach Einsicht des Autors, ein individuelles Gefühl, unabhängig von der objektiven Realität der Verhältnisse. Der Geist wird sich selbst bewusst als freie, schöpferische und ewige Tat und der Sinn der menschlichen Existenz besteht im dialogischen Prinzip (180), in der Dienstbarkeit in Bezug auf den Nächsten als geistiges Wesen. Rubiner stellt der Welt der Freiheit und der menschlichen Beziehungen die Welt der Erfahrung und der Entfremdung des Menschen gegenüber, die den Einzelnen nicht als Subjekt in Gemeinsamkeit mit den Mitmenschen sieht, sondern dem Kausalitätsprinzip als passives Objekt unterliegt. Die Änderung der Welt vollzieht sich als dialektische Umsetzung des Geistes in einen menschlichen Bund, dessen Ausdruck er ist: die Gemeinschaft.

(178) Ludwig Rubiner, ibid., S.41.

(179) Enthusiastisch aus dem Griechischen „entheos“, von Gott erfüllt sein. Vgl. Bożena Chołuj, ibid., S.184.

(180) „Das dialogische Prinzip“ ist der Titel einer Schrift Martin Bubers.

Unter Gemeinschaft versteht Rubiner, und die Expressionisten, einen ethischen Ort, in dem die Kausalität der menschlichen Existenz geleugnet wird, die besonderen Merkmale jedes einzelnen Menschen identifiziert sind und die Freiheit des Handelns anerkannt wird. Der Einzelne unterliegt in der Gemeinschaft keinem fremden Einfluss. Die Grundlage der Gemeinschaft sieht nicht die Integration des Menschen von vornherein vor, wie es in der Gesellschaft der Fall ist, sondern die Erziehung des ethischen Gewissens, und erst in einer nächsten Phase nimmt sie Gestalt an und wird zu einer konkreten sozialen und politischen Ordnung.

Das Fundament der Gemeinschaft ist ethisch und drückt sich in einer pädagogischen Aktivität aus, die in dem Menschen das Gefühl des Geistes erregen soll und die Überzeugung, für die Freiheit handeln zu können. „Der Geist ist das Palladium der Gemeinschaft“ (181) und führt zum Mitmenschentum und nicht zur Isolation des Individuums. Der Dichter, so denkt Rubiner, besitzt von Natur aus die notwendige Energie, um diese Aufgabe, eher diese Weltmission, zu erfüllen. Die Ausrufung des Dichters als Vermittler zwischen dem Menschen und der Welt und die Leugnung des Erlebnisses sind eng miteinander verknüpft. Der Literat wird zum Vertreter der schöpferischen Kraft des Geistes. Er lehnt die Autorität des zum Symbol erwählten Verhaltens und das Privileg der subjektiven Erfahrung ab, durch die die Realität als ästhetischer Genuss und reine Kontemplation begriffen wird.

(181) Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, ibid., S.225.

Der geistige Führer ist „der öffentliche Mensch“ (182), in dem der unaufhaltsame Impuls zur Revolution des Anarchisten, die mystisch-geistige Ausbildung des Intellektuellen und das ausführende Vermögen des Gesetzgebers koexistieren sollen. Aus Rubiners Sicht hatte der Dichter eine doppelwertige Bedeutung: er steht wegen seines ethischen Niveaus über der Gemeinschaft und führt die intellektuelle Entwicklung der Menschen und zugleich integriert er sich kooperativ und verzichtet auf die Vorteile seines Berühmtseins, um seine Mission zu vollenden. Seine Hingabe zur Erfüllung der geistigen Vereinheitlichung verleiht ihm kein Privileg, weil der Geist nicht das Verdienst, sondern das Recht anerkennt. Im Manifest Hören Sie! (1916) ruft Rubiner die Literaten als Fürsprecher der geistigen Erneuerung aus und ruft sie zu Wort und Tat auf:

Ihr Platz ist, Worte zu machen für Dinge, die gut sind. Für Menschliches, das kommen soll. Worte zu machen gegen Schändung des Geistes, Worte zu machen gegen Verrat am göttlichen Menschen, Worte zu machen! (183)

Der Dichter, an den er sich wendet, stellt ein aktivistisches Programm vor, dessen Gestaltung er als soziale Kunst und als klare Leugnung der Ästhetik ansieht, die zum Selbstzweck wird. Rubiner gesellt sich zur Schar derjenigen, die dazu beitragen, die Kunst zu erneuern und drückt seine Zusammengehörigkeit in einem Wir-Gefühl aus:

Wir sind gegen die Musik - für die Erweckung zur Gemeinschaft. Wir sind gegen das Gedicht - für die Aufrufung zur Liebe. Wir sind gegen den Roman - für die Anleitung zum Leben. Wir sind gegen das Drama - für die Anleitung zum Handeln. (184)

Wie wir sehen, greift er zur apodiktischen (beweiskräftigen), durch Für-und-Wider formulierten Aussage, um die grundlegend unumstößliche Evidenz und Gewissheit der Erkenntnis wiederzugeben, die keinen Widerspruch duldet. Durch diese Formulierung als rhetorische Antithese wird die Unterscheidung zweier gegensätzlicher Beispiele emphatisch und provokatorisch verdeutlicht: einerseits die Konzeption der Kunst als Ausdruck ästhetischer Werte, andererseits eine Konzeption der Kunst als Vermittlung von sozial-politischen Inhalten. Das ist gleichzeitig eine Kritik am konventionellen Kunstbegriff und an der Kunstrezeption. Rubiner stellt sowohl das gängige Konzept von Kultur, verstanden als jede Art künstlerischer und literarischer Unterhaltungsform, in Frage, als auch die traditionelle Rollenverteilung zwischen dem aktiven Künstler, der Einfälle hat und sich dadurch profiliert und dem passiven Empfänger, der genießerisch das Kunstwerk aufnimmt.

(182) Ludwig Rubiner, ibid., S.221.

(183) Ludwig Rubiner, Hören Sie!, Die Aktion, 1916, S.380.

(184) Ludwig Rubiner, Der Kampf mit dem Engel, ibid., S.216.

Was zählte, war die schöpferische Idee, d. h. die Ausarbeitung eines Projekts, das an die moralische Kraft des Menschen appelliert und sich ein Ziel setzt: die Durchführung der Politik. Die These der politischen Verantwortlichkeit der Kunst beruht auf der Übereinstimmung zwischen dem kulturellen Engagement des aktiven Subjekts und dem sozialen Gewissen des Literaten und setzt die Gleichberechtigung zwischen dem Handeln des Dichters und dem des Menschen voraus. Die Förderer der geistig-moralischen Erneuerung der Welt sind ohne soziale Definition, nur die Besinnung auf ihr Menschsein steht im Vordergrund. Rubiner nimmt Partei für das unterdrückte Menschliche und benutzt die Lichtsymbolik, um die ideelle Identität des Literaten-Propheten und seine ethische Ansicht zur Geltung zu bringen:

Der Führer steht klein, eine zuckende Blutsäule, auf der schmalen Tribüne. Sein Mund ist eine rundgebogene Armbrust. […] Seine Ringerarme kreisen weit hinein, überzeugend wie schlanke weiße Leiber, ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen werfen im Horizontschwung leuchtende Flügel. […] Der Führer spricht. Um ihn schweben auf und ab, ins Weite und zurück, ringend verschlungen seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingstflammen fließen schmalbrennend auf den riesigen Erdwald der Menschenhäupter herab. Führer, sprich! (185)

(185) Ludwig Rubiner, ibid., S.232.

Das Essay endet mit einem kurzen Manifest Neuer Beginn. Rubiner unterscheidet nach historischen Kriterien drei Epochen der Menschheit und erklärt die Entwicklungstheorie folgendermaßen: er identifiziert die Vergangenheit mit zwei wissenschaftlichen Systemen und bringt die Gegenwart in Verbindung mit der Prophezeiung eines Zeitalters der erlösten Menschheit:

Verbrauchte Epochen der Menschheit: Das geozentrische Bewußtsein stellte das Einzelinteresse des Subjekts in die Mitte der Welt. Epoche des Egoismus; Individualismus; Trotz aus Isolation. Astrologie, oder: der Kosmos ist um des Ichs willen da. Das heliozentrische Bewußtsein stellte das Außermenschliche des Objekts in die Mitte der Welt. Epoche des Relativismus; Determinismus; Angst aus Isolation. Naturwissenschaft, oder: das Ich ist um des Kosmos willen da. Anbruch der neuen Zeit: Das humanozentrische Bewußtsein. Epoche des Brudergefühls; Gemeinschaftsidee; Simultanismus; Allgegenwarts-Sinn. Erdballgesinnung, oder: der Mensch ist um des Menschen willen da. (186)

„Damit ist die Entwicklung aus den Sternen gefallen und siehe, sie fiel ins Herz der Menschheit.“ (187)

(186) Ludwig Rubiner, Der Mensch in der Mitte, ibid., S.191.

(187) Paul Hatvani, Der Mensch in der Mitte, Der Friede, 1918-1919, S.12.

Nach diesem programmatischen Appell gedenkt Rubiner in einer kurzen Aussage, Erinnerung, der Zeitschrift Die Aktion, in der er den Großteil der in seinem Essay versammelten Aufsätze veröffentlicht, und ihrem Herausgeber Franz Pfemfert, den er als Freund und als Kampfgefährten würdigt.

Rubiner verbreitet die humanozentrische Konzeption als politisches Manifest und hat die traditionelle Prosa in dem Sinne eines Aufrufes umgeformt, so als ob er eine öffentliche Ansprache vor Publikum halten würde, das von der ekstatischen Kraft der Worte fast betäubt wird. Im Nachruf an den französischen Künstler André Derain (1880-1954), Der Maler vor der Arche (1916), den Rubiner sich als Kriegsgefallenen vorstellt, appelliert er an die Literaten, an die Künstler und unterstreicht mit deklamatorischer Emphase die Aufforderung wie in einem Kirchenpsalm:

Ihr müßt selbst die Beherrscher eures Schicksals sein. Das ist keine Angelegenheit der Mystik sondern eine des Willens. Die Welt hat den Mythos vom Erlebnis aufgestellt, um euch leichter unter ihre Maschinengewehrkugeln zu kriegen. Wenn Ihr erst glaubt an die Notwendigkeit der Beweise, der Dokumentationen, der Belege für das Leben, an die Erforderlichkeit des Erlebnisses: dann seid Ihr schon hilflos eingewickelt, dem Sklaventode verfallen. Seid Ihr denn nicht Wesen, durchschienen vom Strahlen des Geistes? seid Ihr nicht da, das Göttliche zu verwirklichen? Ihr habt nicht das Leben zu dokumentieren, denn da bliebet Ihr immer noch bloße Vegetation. Ihr habt den Geist zu dokumentieren, mit der Durchsetzung, der Realisierung des Geistigen in der Welt. (188)

(188) Ludwig Rubiner, Der Maler vor der Arche, Die Aktion, 1916, S.4-5.

Der Ton des Aufrufs klingt kraftvoll und involviert den Adressaten, die Schöpferischen (189), die Pfeiler der Gemeinschaft, durch direktes Ansprechen. Rubiners Schriften können als großartiges Manifest des Expressionismus angesehen werden, jede Aussage liefert Impulse zur dialektischen Erörterung, seine Prosa ist logisch strukturiert, aktiv, zieht Schlüsse; die redundanten, poetisch wirkenden Ausdrücke sind wirkungsvoll und hallen oft wie Schreie der Empörung, oder sind kurz und prägnant und werden als Aphorismen formuliert. Ein aktivistischer Elan prägt sowohl die Sprache der Publizistik als auch die der Lyrik und kommt durch die Auswahl der Gattungen zum Ausdruck: Aufrufe, Forderungen, Aufforderungen, Manifeste. Der Leser wird in einen wahren „Aktionsrausch“ versetzt. Die Sprache erfüllt ihre Funktion als Kommunikationsinstrument, ohne auf ästhetische Grundsätze zu achten.

(189) Ludwig Rubiner, ibid., S.4.




Die Anthologien - Kameraden der Menschheit.

Dichtungen zur Weltrevolution und

die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende:

ein Aufruf zur menschlichen Solidarität

Nach dem Untergang des wilhelminischen Kaiserreichs entwickelte sich in Zusammenhang mit der Novemberrevolution (1918-1919) eine allgemeine Aufbruchsstimmung, die einen politischen Neuanfang brachte. Die revolutionären Ereignisse im November, die mit dem Kieler Matrosenaufstand begannen, führten zur Umwandlung des Deutschen Reichs von einer konstitutionellen Monarchie in eine demokratische Republik. Die revolutionären Umwälzungen erfassten das ganze Reich, zwangen die Bundesfürsten zur Abdankung und erreichten München noch vor der Reichshauptstadt. Am 7. November war in München die Dynastie der Wittelsbacher gestürzt und Kurt Eisner wurde der erste Ministerpräsident der von ihm ausgerufenen bayerischen Republik.

Die Ausrufung der Republik in Deutschland erfolgte am 9. November 1918 in Berlin sowohl unter demokratischen Vorzeichen durch den sozialdemokratischen Politiker Philipp Scheidemann, der den Zusammenbruch des Kaiserreichs markiert, als auch unter sozialistischen Vorzeichen durch den Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht, mit dem Ziel einer internationalen Revolution des Proletariats und einer gesamtdeutschen, anarchistischen, später kommunistischen Räterepublik. Der Spartakusbund entstand 1916 als Gruppe innerhalb der SPD, die die Kriegskredite ablehnte und entwickelte sich zum linken Flügel der Partei unter der Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, bis er 1918 in die Gründung der KPD mündete.

Während der revolutionären Umbrüche hielt sich Rubiner in der Schweiz auf. 1919 zog er in die alte Berliner Wohnung Ferruccio Busonis am Viktoria Luise Platz 11 ein. Am 15. März 1919 schrieb er an Busoni:

Lieber! Dieser Brief wartet mit einigen Überraschungen auf. Die erste ist, dass meine Adresse nun lautet: Berlin W.30. Viktoria Luiseplatz 11 IV. Dass ich in Ihrem grossen Zimmer bei der Arbeit sitze, und dass Emma Fital soeben im Nebenzimmer denkbar peinlich rein macht. ---- Bald nachdem ich Rita wieder gesehen hatte, schien es dieser (ernstlich ganz ausserordentlichen) Verwalterin Ihres Haushaltes während Ihrer Abwesenheit - und schien es auch mir - aus mehreren Gründen am besten zu sein, wenn ich in Ihre Wohnung zöge, bis auf Weiteres, das heisst: bis auf Ihre hoffentlich baldige Wiederkunft, oder bis auf Ihr Veto. - Ich tat dies zunächst ohne Bedenken, weil Sie selbst mir in Zürich die Schwierigkeiten als mehr berlinischer Art und vor allem durch Rita zu entscheiden dargelegt hatten. Die drei Gründe waren 1.) der persönliche Grund: Dass Ihre Wohnung der herrlichste Arbeitsplatz von der Welt ist, voll von Wundern: draussen vor den Fenstern, wobei immer wieder das merkwürdigste von allen die Kuppel der peterskirklichen Gasanstalt der Ausgsburgerstrasse ist. Die Wohnung ist überhaupt merkwürdig. Ich wohnte erst im Hôtel, dann bei Bekannten, äusserst traurig, so dass es nichts mit der Arbeit war und ich krank wurde. Kaum zog ich endlich (nach sorgfältigster Vorbereitung durch Rita und Emma) in Ihre Wohnung, wurde ich gesund und arbeitete drauf los. (190)

In Potsdam war er als Lektor beim Kiepenheuer Verlag tätig. Der Kiepenheuer Verlag wurde 1909 in Weimar gegründet und orientierte sich bis Ende des ersten Weltkrieges an der Erhaltung des klassischen Kulturgutes. Gegen Ende 1918 versetzte Kiepenheuer den Sitz des Verlages nach Potsdam. Rubiner fängt seine Tätigkeit beim Verlag mit der Veröffentlichung seiner eigenen Werke an: die zweite Ausgabe seines programmatischen Aufsatzes Der Mensch in der Mitte, die zwei Anthologien Kameraden der Menschheit und Die Gemeinschaft, und das Drama Die Gewaltlosen erschienen hier.

Rubiner wandelte das traditionelle Verlagsprogramm in ein zeitgemäßes Profil (191) und dabei konnte er auf seine Erfahrung als Herausgeber zurückgreifen. Die Anthologie galt in den Jahren zwischen 1912 und 1920 als eine besondere Publikationsform, ein Manifest mit demonstrativ-provokatorischen Absichten, das nach den Gesichtspunkten der Herausgeber gestaltet wurde, um sich an den literaturtheoretischen Diskussionen aktiv zu beteiligen. 1912 erschien die erste von Kurt Hiller herausgegebene Lyrikanthologie des frühen literarischen Expressionismus Der Kondor, die drei Gedichte Rubiners enthält: Der Herrscher, Die Stadt und Der Tänzer Nijinski.

Die von Kurt Pinthus herausgegebene Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung (1919-1920) ist das charakteristischste und bedeutendste Kulturdokument der expressionistischen Lyrik. Die versammelten Gedichte von bekannten deutschsprachigen Lyrikern sind in vier Kapiteln gegliedert: Sturz und Schrei, Erweckung des Herzens, Aufruf und Empörung und Liebe den Menschen.

Rubiners Sammlung Kameraden der Menschheit stellt die neusten zeitgenössischen Revolutionsdichtungen zusammen, die zwischen 1914 und 1918 von engagierten deutschen und französischen Lyrikern verfasst wurden: Ludwig Bäumer, Johannes Becher, Carl Einstein, Albert Ehrenstein, Iwan Goll, Henri Guilbeaux, Walter Hasenclever, Arthur Holitscher, Pierre Jean Jouve, Hedwig Lachmann, Rudolf Leonhard, Marcel Martinet, Karl Otten, Ernst Toller, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein und Paul Zech. Die Kameraden sind die geistigen, pazifistischen Anhänger, die sich zum Kampf gegen den Militarismus um ihn scharen.

Über den Inhalt der Anthologie klärt Rubiners Nachwort am besten auf:

Jedes Gedicht dieses Buches ist ein Bekenntnis seines Dichters zum Kampf gegen eine alte Welt, zum Marsch in das neue Menschenland der sozialen Revolution. (192)

(190) Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek Berlin. Zitiert nach dem Original.

(191) Ute Schneider, Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag, Wallstein, Göttingen, 2005, S.150

(192) Ludwig Rubiner, Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution, Akademischer Verlag, Stuttgart, 1979, S.173.

Mit seinem subjektiven Auswahlkriterium will Rubiner der Anthologie eine europäische und programmatische Richtung geben. Es handelt sich grundsätzlich um eine Revolutionslyrik, die jedem künstlerischen und ästhetischen Werturteil entgeht:

Wir wissen, daß der "rein künstlerische" Wert unrein und ein Unwert ist; denn die Künstlerästhetik ist ein Denksystem des Bürgers. (193)

Die von Rubiner verwendete Terminologie lässt bereits erkennen, dass seine derzeitige Auffassung der Rolle des Dichters aus dem neuen politischen und sozialen Szenario um 1919 hervorging. Er bleibt bei der Definition des Dichters als Prophet, wie er im Aufsatz der Mensch in der Mitte präfiguriert hat, der eine öffentliche politische Rolle als Führer des Volkes spielen muss und alte Werte und Ideale abschafft; er unterscheidet aber zwischen der geistigen Aufgabe des Literaten und der Aktion des Proletariers. Das Verständnis der historischen Rolle der Arbeiterklasse lässt sich in dieser Aussage schon erkennen:

Und hier tritt der Dichter endlich an die Seite des Proletariers: Der Proletarier befreit die Welt von der wirtschaftlichen Vergangenheit des Kapitalismus; der Dichter befreit sie von der Gefühlsvergangenheit des Kapitalismus. Kameraden der Menschheit rufen zur Weltrevolution. (194)

(193) Ludwig Rubiner, ibid.

(194) Ludwig Rubiner, ibid., S.176.

Rubiner fordert den Literaten auf, in seine Zeit einzuwirken und die Verantwortung für das Mitwirken der Menschen zu übernehmen. Rubiner zeigte sich solidarisch mit der Arbeiterbewegung und ihren Forderungen, seine politische Überzeugung ist aber noch derzeit geprägt durch ein Weltverbesserungsideal im Sinne des ethischen Sozialismus: die proletarische Revolution wird als eine demokratische gesellschaftliche Umwälzung verstanden. Der aktivistische Schriftsteller, der bereit ist, auf die Gegenwart einzuwirken, gehört noch in den utopischen Kontext einer vagen Prophetie, weil er im bürgerlichen Denksystem tief verwurzelt ist:

Der aufrichtige Revolutionsdichter, den wir heute kennen, der nicht Schlagworte reimt, sondern durch dichterische Schöpfungen die Revolution geistig vorwärts zu treiben sucht, stammt fast nie aus dem Proletariat, sondern beinahe immer aus dem Kleinbürgertum. So war seine historische Aufgabe zuerst, sich selbst aus dem Kleinbürgertum zu befreien. Daher ist die seelisch wertvollere Revolutionsdichtung nicht sozialistisch, sondern vorläufig noch utopistisch. (195)

In der postrevolutionären Zeit bleibt er bei seiner eigenen Auffassung, die er 1912 im programmatischen Aufsatz Der Dichter greift in die Politik thematisiert hatte, und greift noch auf den Mythos vom Dichter als Träger der Idee und des Gedankens zurück, der neue moralische Werte als Voraussetzung der politischen Einflussnahme schafft:

So gering unter den Dichtern die Sachlichkeit des Gemeinschaftszieles auftritt - die Produktionsmittel der Erde in die Hände der Produzierenden! - so groß ist dagegen ihre Sachlichkeit auf allen geistigen, moralischen und Willenswegen der Revolution. (196)

(195) Ludwig Rubiner, ibid., S.174.

(196) Ludwig Rubiner, ibid., S.174-175.

Im ersten Teil der Anthologie - Die Internationale - veröffentlicht Rubiner Gedichte von Johannes Becher, Paul Zech, Marcel Martinet und Henri Guilbeaux und seine Lyrik Eine Botschaft. Rubiner nimmt Bezug auf die oppositionelle SPD-Gruppe Internationale und deren gleichnamige Zeitschrift und auf die 1919 von Lenin gegründete kommunistische Internationale oder Dritte Internationale. Rubiner greift zu den Schlagwörtern der politischen Propaganda, um die nächsten fünf Teile zu betiteln: Nieder mit dem Krieg, Vorbereitung, Die Empörung, Die rote Schar und Kameraden der Menschheit. Die Botschaft der Weltverbrüderung erscheint in dieser Unterteilung von politischen Umständen geprägt. Die Anthologie ist die Proklamation eines utopischen Projekts, eines Aufrufes zur Solidarität unter den Literaten und, wie bei Pinthus, eines Vorzeichens der zukünftigen sozialen Gemeinschaft.

Rubiner gibt in seiner Anthologie acht Gedichte heraus, die er in den Gedichtzyklen Das himmlische Licht und Zurufe an die Freunde (1917 im Pfemferts Aktionsbuch erschienen) schon veröffentlicht hatte. Der hymnische Gedichtzyklus Zurufe an die Freunde umfasst fünf Gedichte: Führer, Wort, Eine Botschaft, Die Engel, Denke und ist dem Gründer und Führer des sozialistischen Spartakusbundes Karl Liebknecht gewidmet, zu dessen Verherrlichung auch drei in der Anthologie enthaltene Gedichte beitragen: Hasenclevers Die Mörder sitzen in der Oper, Karl Liebknecht von Henri Guilbeaux und Aufruhr von Arthur Holitscher. Zurufe an die Freunde vermitteln in lyrischer Verklärung die historische Bedeutung der Antikriegskundgebung, die am 1. Mai 1916 von Liebknecht auf dem Potsdamer Platz in Berlin veranstaltet wurde, und stilisieren Liebknecht ins Heroische als Kämpfer für die Freiheit und für den Frieden. Die Sprache klingt prophetisch:

Du siehst die Löcher aus den Augen schaun, die Arme tastend, Leiber hilfegedrängt, die Köpfe weiß und viel, als blicktest du lang in den schmerzenden Spiegel. Sieh dein Gesicht groß wächsern dir entgegen, […] Führer, sieh dein Ewigkeitsgesicht, schmal. Brüderlich. (197)

Rubiner greift zu einer Technik, die thematische Einheitlichkeit aufweist und Prosa und Lyrik in einen Bedeutungszusammenhang bringt: das Eröffnungsgedicht Führer und das fünfte Gedicht Die Engel sind die Übertragung des Nachwortes der programmatischen Schrift Der Kampf mit dem Engel (1917) in hymnische Verse. Der Aufruf an den geistigen Führer ist bezogen auf die politische und gesellschaftliche Gegenwart, er wird direkt angesprochen und historisiert:

Führer, du stehst klein, eine zuckende Blutsäule auf der schmalen Tribüne, Dein Mund ist eine rund gebogene Armbrust, du wirst schwingend abgeschnellt. Deine Augen werfen im Horizontflug leuchtende Flügel ins Grüne, Deine Ringerarme kreisen weit hinein ins feindliche Menschenfeld. […] O Engel, ihr fliegt im leuchtenden Ball des Hauptes durch blauen Raum, […] Führer, sprich! Um dich ringen die Engel auf kristallenen Bergen hochstrahlend und heiß. (198)

(197) Ludwig Rubiner, Zurufe an die Freunde, in Klaus Schuhmann, Der Dichter greift in die Politik, ibid., S.41.

(198) Ludwig Rubiner, ibid., S.44-45.

In den hymnischen Langzeilengedichten, die durch Whitman inspiriert wurden, werden der Führer und die Revolution idealisiert und „entpolitisiert“, so dass der Führer als die Personifikation des Welterlösers auftritt und die Revolution als rettende, kosmische, ethische Aktion erscheint, die aus der vitalen Kraft dieser Lichtgestalt entspringt. Das letzte Gedicht Denke erscheint in der Anthologie unter dem Titel Der Denker und spricht die Thematik der Identifikation von kosmischer Kraft mit der Kraft des menschlichen Willens und der Gedankenübertragung an, wie in seinem Drama, und weist auf die inhaltliche Kontinuität hin:

O es ist gewiß, diese alle, die in der Straßenschlacht stehen, werden sterben. Aber das sinnlose heiße Auszischen unseres Lebens fliegt hinaus in die Welt, die Sterne tragen unsere Gesichte verschüttend durch die Nächte, wie Bienen, die vom Blütenstaub beschwert um den Erdball auf und nieder steigen. […] Die Wärter flüstern verboten den Gefangenen zu. Dein Bruderauge kreist schauend wie bewegter Stein durch die wachenden Zellen hin. Denke du durch alle Gefangenenhirne, hinaus zu den Wachen, über die Höfe, hinaus in die Straßen! (199)

Die russische Revolution dient als Vorbild für die gesellschaftliche Umwandlung, wie es in der Vorbemerkung zur zweiten Anthologie Die Gemeinschaft heißt:

Es geht um die Arbeit, die einen Weltgemeinschafts-Sinn hat. Und diese Geisteswende ungeheuerster ethischer Erdballentscheidung für kommende Generationen fand ihren ersten Ausdruck durch die Realität in den Novembertagen von 1917 und 1918, da die menschliche Sprache die Ideen "Sowjet" und "Räte" als neue, mächtige Selbstverständlichkeiten über die Länder warf. (200)

(199) Ludwig Rubiner, ibid., S.44-46.

(200) Ludwig Rubiner, Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende, Kiepenheuer, Potsdam, 1919, S.6.

Der ursächliche Zusammenhang zwischen Kunst und Revolution bildet das Kriterium für die Auswahl der Themen. Die Anthologie Die Gemeinschaft sammelt Dokumente von Karl Marx, Henri Barbusse, Jean Jacques Rousseau und Benjamin Constant, nur um einige zu nennen, die einen theoretischen Beitrag zur Grundlegung der revolutionären Idee in der Geschichte geleistet haben; sie umfasst Gedichte, Dramen, Erzählungen, Texte, die keinem chronologischen Faden folgen wie z. B. Die ungöttliche Komödie (1835) des polnischen Dichters und Dramatikers Zygmunt Krasinski, Hölle, Weg, Erde (1919) von Georg Kaiser, Candide (1759) von Voltaire und Jimmie Higgins (1919) vom amerikanischen Schriftsteller Upton Sinclair.

Die russische Revolution hat wegen ihrer historischen Rolle eine zentrale Stellung bei Rubiner aber sie wird nicht nur als ein historischer politischer Vorgang aufgefasst, der das Ende der Zarenherrschaft und die Machtübernahme des Sowjets bedeutet, sondern als eine grundlegende Phase, die einen sowohl sozialen als auch moralischen Modernisierungsprozess veranschaulicht. Diese Ansicht lässt gut die Bedeutung der kritisch-theoretischen Vorbereitung des Kampfes zur Überwindung der bürgerlichen Strukturen erkennen.

Das Zusammenlegen verschiedener Dokumente aus unterschiedlichen Epochen bezeugt, nach Ansicht des Herausgebers, einen menschlichen Verbesserungsprozess, der im letzten Kapitel Weltbeginn darin gipfelt, dass das Manifest der kommunistischen Internationale und die programmatische Schrift Proletarische Kultur des Volkskommissars für das Bildungswesen Anatolij Lunatscharski aufgenommen werden. 1919 schrieb Rubiner die Vorrede der deutschen Ausgabe von Lunatscharskis Broschüre Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse, in der er sich mit der großen Perspektive Lunatscharskis für das Menschenkollektiv einig zeigt, und zwar, dass Wissenschaft und Kunst Lebensbedürfnisse des Menschen sind und die geistig-künstlerische Tätigkeit und politisches Handeln vereinbare Begriffe sind:

Die große Kraft Lunatscharskis dient der russischen Räterepublik bei der Aufrichtung eines ungeheuren Kulturwerkes. Lunatscharski begründete "Proletkult" (abgekürzter Name des Instituts für proletarische Kultur), eine Einrichtung, die nicht nur die Werke der großen Schriftsteller und Denker der Welt dem russischen Volke in Millionen von Exemplaren umsonst zugänglich macht, sondern die auch die Fähigkeiten dieses neuen Menschengeschlechtes von morgen, des Proletariats, in Dichtung, Musik, bildender Kunst überall bis an die Wurzel aufspürt und ermutigt. (201)

(201) Ludwig Rubiner, Vorrede zu A. Lunatscharski: Die Kulturaufgaben der Arbeiterklasse, in Walter Fähnders, Martin Rector, Literatur im Klassenkampf. Zur proletarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919-1923, Carl Hanser, München, 1971, S.104.

Als Lektor bei Kiepenheuer bemüht sich Rubiner auch um das Bekanntmachen der neuen kulturellen, sowjetischen Strömungen wie z. B. der Kunst des Bildhauers Alexander Archipenko, des Malers Marc Chagall – Leiter der Kunstschule und von Lunatscharski zum Kommissar der schönen Künste in Witebsk ernannt - und des Avantgarde-Theaterregisseurs Alexander Tairow.

Sein Appell an die Kameraden ist ein Appell an Künstler und Schriftsteller, deren Bestimmung darin liegt, ihre Intuition im Dienste der Menschheit zu entfalten, ethische Werte zu schaffen und bewusst an der Höherentwicklung des menschlichen Lebens zu arbeiten; sein Anknüpfen an Bekanntes durch das Sammeln aktueller und vergangener Zeugnisse zielt darauf ab, eine Anhängerschar jeder Epoche zu gewinnen, die seine Anschauung der geistigen Revolution vertritt. In beiden Anthologien durch die Übernahme verschiedener Rollen wird der Autor zum Herausgeber.

Rubiner vereinbart den humanistischen Gehalt und die künstlerische Form der Gemeinschaft. Die Gemeinschaft soll an die Stelle einer notwendigen und zweckmäßigen Gesellschaft treten. Dieses Ideal lässt sich mit den ideellen Auswirkungen der sozialistischen Revolution vereinbaren. Die theoretischen und kritischen Grundvoraussetzungen müssen der gesellschaftlichen Praxis des Sozialismus und des politischen Handelns vorausgehen. Er unterscheidet zwischen Erziehung des Gewissens und Führertum und lehnt deren Gleichsetzung ab, aus reiner Abneigung gegen jedes Autoritätsprinzip und jede hierarchische Ordnung.

Er lässt die Identität der charismatischen, monolithischen Führerfigur in die Masse, in die Allgemeinheit übergehen, die die soziale Gerechtigkeit und die Demokratie gewährleistet. Zentralpunkt seiner Überlegungen ist „das Untertauchen in die Masse“ (202): gemeinschaftliche Interessen und Ziele aller Individuen bilden die Voraussetzung des sozialen Bewusstseins und politischen Handelns, die über die Grenzen des in einer herrschenden Klasse dargestellten Autoritätsbegriffs hinausgeht. Das Manifest Die Erneuerung, das ein Jahr zuvor in der Zeitschrift Das Forum abgedruckt wurde und in der Anthologie aufgenommen ist, setzt sich mit dieser Auffassung des Autoritätsmenschen (203) und des wirkenden Volkes (204) auseinander:

Das Volk, noch eine Millionenzahl von einzelnen, unverbundenen, stecknadelgroßen Individuen, strömt aus unendlich vielen Flußläufen seine Willenskräfte zusammen, mächtig steigt sein Wille auf, ein riesenhafter griffbereiter Arm aus zahllosen Menschenleibern. Die Führer sind verstört. (205)

Rubiner rahmt den revolutionären Prozess in einen allgemeinen Kontext geistiger Krise ein: die neue Gemeinschaft kann allein über die Erneuerung des Ichs, über das geistige Wachstum des Menschen gewährleistet sein. Der menschliche Wandlungsprozess fängt mit der Bekehrung (206) der Masse, des Proletariats an, das sich durch die Besinnung auf sein Menschsein zu neuem Zusammenschluss reifen kann. Seine Idealvorstellung der aufgeklärten, gewandelten Masse hat mit einer Konzession an das sozialistische System zu tun und kennzeichnet die Arbeiterklasse als tätige Schöpferkraft.

(202) Ludwig Rubiner, Die Erneuerung, Das Forum, 1919, S.65

(203) Ludwig Rubiner, ibid., S.63.

(204) Ludwig Rubiner, ibid.

(205) Ludwig Rubiner, ibid., S.62.

(206) Ludwig Rubiner, ibid. S.65.




Die Gewaltlosen: ein Manifest der Gewaltlosigkeit

In seinem Manifest von 1918 Die Erneuerung bediente sich Rubiner der vitalistischen und pathetischen Sprache des Expressionismus, um an einen imaginären Genossen des Geistes als Führer der sozialen Revolution zu appellieren. Er bekennt sich zum „expressionistischen Aktivismus“, zu einer pazifistischen Bewegung, die die Erweckung des Menschen durch den Geist anstrebte. Seine idealistische und ästhetische Vorstellung von Aktion und Erneuerung lässt darauf schließen, dass sein Interesse für die revolutionären Strömungen der Zeit und das in seinem Manifest erwähnte Proletariat als neubauende Kraft keineswegs politisch motiviert war. Rubiner strebt nach einer Gestaltung der Wirklichkeit aus der Kraft der Utopie, der Sehnsucht nach einer menschlichen Neuerung durch den Geist.

Die sozialistische Orientierung des Spartakusbundes, der im Widerstand der Unterdrückten – des Proletariats – gegen die Ausbeuter – die Kapitalisten – seine Berechtigung findet, nährt die Hoffnungen einiger Schriftsteller, die sich in Vereinigungen zusammenschließen und sich in den Jahren 1918-1919 politisch engagierten, wie Kurt Hillers Rat geistiger Arbeiter, Franz Pfemferts Antinationale Sozialistenpartei und Alfons Goldschmidts Bund der Anhänger des Rätegedankens.

Rubiner schloss sich weder einer dieser intellektuellen Gruppierungen (207) noch der KPD an. Im Brief vom Mai 1917 an Busoni bezeichnet er die Politik als “Schwindelspecialität”. (208) Seine Ablehnung der Politik führte auch zur Absage, beim Cassirer-Verlag mitzuwirken, der als Verlag der USPD galt:

Erstens ist der Verlag Cassirer ein politischer Verlag. Er bekommt seine Druckaufträge z.T. von der Regierung, die sie nur des Buchhandels wegen mit der Marke dieses Verlages herausgeben liess. Zweitens aber ist er ein noch mehr politischer Verlag insofern, als er auch noch der geistige Unterstützungsverlag der sog. „Unabhängigen socialistischen Partei“ ist, und er ist also ein politischer Parteiverlag, dermassen, dass alles was heute […] im Verlage Cassirer erscheint, automatisch als zugehörig zur „U.S.P.“ (unabhäng. soc. Part.) gerechnet wird. […] Nun gehöre ich erstens dieser Partei nicht an, (wie keiner Partei!) und zweitens, selbst wenn ich ihr angehören wollte, müsste ich mir doch das Recht wahren, dies nach meinem eigenen Willen tun zu können, nicht aber auf Grund eines schlechten und ausbeuterischen Verlagsvertrages mechanisch als Glied dieser Partei zu gelten! […] So verliess ich das Haus mit dem Entschluss, meine Beziehungen zum Verlage Cassirer zu lösen. (209)

Für Rubiner zielte die Erneuerung des Menschen hauptsächlich auf die Erneuerung der moralischen Werte. Seine Vorstellung von Sozialismus hat mit den politischen Theorien des historischen Materialismus nichts zu tun, sondern war ethisch bestimmt als Gemeinschaftsideal Gleichgesinnter, als „Erdballgesinnung“ (210), als universalistischer Begriff, der sich nicht auf die gesellschaftlichen Bedingungen sondern auf die Aufrechterhaltung der Menschenwürde und der Freiheit des Menschen beruft. Der Kern seiner sozialistischen Bestrebungen ist nicht die Diktatur des Proletariats sondern die Nächstenliebe und der Appell, dem Bösen ohne Gewalt zu widerstehen, nach dem Vorbild Tolstois.

(207) Klaus Petersen, Ludwig Rubiner, ibid., S.59

(208) Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek Berlin. Zitiert nach dem Original.

(209) Rubiner Brief an Busoni vom 15. März 1919. Durch die Unterstreichung des Hauptwortes “Partei” und des Adjektivs “politischer” wird die Einstellung des Autors deutlicher. Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin. Zitiert nach dem Original.

(210) Ludwig Rubiner, Europäische Gesellschaft, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.7.

Im Sinne des Idealsozialismus wies Rubiner auch nach der Revolution auf die Bedeutung von Kunst und Volksbildung für die Erziehung der Massen und auf die wichtige Rolle des Künstlers innerhalb der Arbeiterbewegung hin. Er unterscheidet sich von Franz Pfemfert, der sich nach Ende des Krieges parteipolitisch engagierte und seine Zeitschrift Die Aktion zu einer linken Politikzeitschrift machte, der Rubiner seine Mitarbeit entzog. Im Nachwort zu seiner Anthologie Kameraden der Menschheit würdigt Rubiner aber die verlegerische Leistung Pfemferts und seine Verdienste um die Veröffentlichung und Verbreitung der Werke der Humanität und der sozialen Gerechtigkeit (211) in Deutschland.

Rubiner sondert sich von allen politischen Gruppen ab. Er bezieht sich in seinem Drama auf die soziale Situation des Klassenkampfes und der Auflehnung der Massen aber die Gewaltlosigkeit siegt über die Revolution.

Das Drama wurde im Schweizer Exil verfasst und in Berlin beendet (212), ist seiner Frau Frida Ichak gewidmet und gliedert sich in vier Akte. Rubiner eröffnete mit seinem Theaterstück die expressionistische Reihe des Kiepenheuer Verlages - Der dramatische Wille – eine Sammlung, die sich vornahm, Werke junger Dramatiker zu verbreiten. Das Drama wurde am 22. Mai 1920 im Neuen Volkstheater Berlin uraufgeführt, Rubiner wohnte der Uraufführung nicht bei. (213)

(211) Ludwig Rubiner, Nachwort, in Kameraden der Menschheit, ibid., S.170.

(212) Vgl. Rubiner-Briefe an Busoni aus Muralto - Locarno und Berlin von 1918-1919. Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin.

(213) Roland Schacht, Die Gewaltlosen, Freie Deutsche Bühne, 1919-1920, S.934.

Im Drama lassen sich viele Parallelen zum dichterischen Werk Das himmlische Licht (1916) erkennen. Er greift die biblische und neoplatonische Lichtmystik auf und verwendet sie als Metapher für die Erweckung des Geistes. Mit der Poetik des Lichtes wird auf den Geist als „Inbegriff aller Bemühungen um Besserung des Loses der Menschheit“ (214) angespielt. Die Wandlung der gesellschaftlichen Ordnung geht – nach der Auffassung des Autors - über den Klassenkampf hinaus; er legte das Primat bei der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf das Bewusstsein. Das Ideendrama und die Ideendichtung deuten gleichermaßen auf die Geistkonzeption Rubiners hin:

Die Niederschrift dieser Legende wurde im Januar 1917 begonnen, im Herbst 1918 beendet. Inmitten der härtesten Verzweiflungsjahre, während die Siege des Weltkapitalismus sich über den Völkern hin und her wälzten. - Zürich. - Die Personen des Dramas sind die Vertreter von Ideen. Ein Ideenwerk hilft der Zeit, zu ihrem Ziel zu gelangen, indem es über die Zeit hinweg das letzte Ziel selbst als Wirklichkeit aufstellt. (215)

(214) Kurt Hiller, Der Aufbruch zum Paradies, München, Kurt Wolff Verlag, 1922, S.102.

(215) Ludwig Rubiner, Die Gewaltlosen, in Günther Rühle, Zeit und Theater. Vom Kaiserreich zur Republik 1913-1925, Propyläen, Berlin, 1973, S.449.

Im Sinne der expressionistischen Dramatik sind die Personen Ideenträger und werden nicht als individuelle Wesen, sondern typisiert dargestellt: der Mann, die Frau, Klotz, der Gouverneur, Anna, Nauke, die Gefängniswächter, der Offizier, die Gefangenen, der Kranke, die Bürger, der Junge, um einige zu nennen. Das Drama behandelt thematisch die Problematik der damaligen Gesellschaftsordnung, den Konflikt zwischen dem unterdrückten Volk, das eine Stadt belagert und seinen Verfolgern, dem Bürgertum und dem Militär.

Das symbolisch gehaltvolle Drama eröffnet eine visionäre Schau von Menschen und Ereignissen. Ein Mann und eine Frau erleben die Erleuchtung ihres Bewusstseins als persönliche Einweihung und beginnen ihren ganz eigenen, persönlichen Weg. Das Volk, die Aufständischen und - im übertragenen Sinn - die ganze Menschheit, werden allmählich von ihrer Ausstrahlung magisch angezogen. Die spirituelle Erweckung des Menschen führt zu einer universellen Erneuerung und stellt die Erlösung von der materiellen und moralischen Gefangenschaft und den Beginn einer neuen Heilszeit dar. Die zentrale Botschaft des Dramas, das Rubiner als Verwandlungsdrama charakterisiert, ist die innere Wandlung des Menschen durch die Erweckung seines Bewusstseins und die Überwindung aller äußeren Grenzen, auf erstaunlicher Art und Weise, durch Wundergeschehnisse. Die Geschichte der Gewaltlosen stellt sich, wie im Vorwort beschrieben, als Legende heraus. Im Brief an Busoni vom 19. 2. 1918 stellte er seine Theaterauffassung dar. Zentralpunkt ist die aktive Wirkung der Bühne als Ort für Denkanstöße, wo nur das innere Erlebnis in den Vordergrund tritt:

Sehr lieber! […] Ich stehe momentan inmitten dichterischer Produktion. Gestern früh kam Ihr Freundesbrief, in der Nacht darauf war endlich der I. Akt [m]eines Dramas fertig geworden. Der zweite beginnt morgen früh. Dieses Drama ist nun allerdings kein Herbst [unlesbar] doch auch keine Trilogie. Es geschehen Wunder, eins nach dem andern - aber: ohne Apparate. Ja sogar ohne Dekorationen. Der Zuschauer, der Dekorationen sehen will, muss sie sich selbst mitbringen. Es ist Phantasie - Arbeit. Sie können sich denken, wieviel ich mit Ihnen mich besprochen habe. Mir ist auch eines klar geworden: Dekorationen und Ausstattung gehören zur Oper, auch Apparate, Accessorien etc. Dort sind sie aber nötig, gerade wie die Musik dort nötig ist. Im Drama sind sie aber Schwindel, freilich sind im Drama auch Samtvorhänge und sonstiger Kunstgewerbekitsch Schwindel. Ich bin auf das Einfachste zurückgegangen, nämlich auf die Raum-Einteilung der Bühne. Dazu noch ein unglaublich einfaches technisches Verfahren, das einfachste von allen, an das die Leute urseltsamerweise meistens nicht denken. (216)

Die Gewaltlosen ergreifen Besitz von einem Schiff, das am Hafen vor Anker liegt, und stechen in See. Ihr Glaube wird auf die Probe gestellt: beim Erblicken eines Feindesschiffes beweisen sie ihre psychische Stärke und folgen nicht ihrem Selbsterhaltungstrieb. Eine der Erlöserfiguren, der Gouverneur, ist sich aber bewusst, dass sie mit ihrer Flucht egoistische Absichten verfolgen und sich von dem Gemeinschaftsideal entfernen. In der zehnten Szene des zweiten Aktes beruft er sich inbrünstig auf die Auflösung des Selbst:

Der Gouverneur: O meine Brüder, wir müssen hinein in das Schicksal, wissend! Was haben wir getan! Wir haben durch die Flucht und durch die Erniedrigung nur uns gewonnen. Nun müssen wir uns wieder verlieren. Wir sind zu sehr Selbst; wir haben noch ganz unser Ich. Wir müssen uns sprengen. Jetzt müssen wir zerstören! (217)

(216) Quellenhinweis: Busonis Nachlass, Staatsbibliothek-Berlin. Zitiert nach dem Original.

(217) Ludwig Rubiner, Die Gewaltlosen, ibid., S.486.

Der Gouverneur beschließt das Schiff zu sprengen, nachdem alle das Schiff verlassen haben. Sie kommen zu einer belagerten Stadt, um den Menschen die Freiheit zu bringen und die Botschaft der Gewaltlosigkeit zu verbreiten. In der Stadt revoltieren die Arbeiter gegen die Bürger. Ein Matrose der Mannschaft, Nauke, verrät sie, treibt doppeltes Spiel und verbündet sich mit den Bürgern, die als Herrscher in die Stadt zurückkehren wollen. Der passive Widerstand der Gewaltlosen wehrt aber ihren gewaltsamen Angriff ab.

Auf der Straße wird der Mann festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Im Gefängnis geschieht ein neues Wunder: der Mann erlöst die Wächter von ihrem Zustand der Unterwerfung und beweist sich als Führer der geistigen Revolution. Die Gewalt zur Bestrafung der Gefangenen wird parodistisch als Metapher der Verrohung des Menschen verwendet, der nicht mehr weiß, was das Gute ist. So in der neunten Szene des ersten Aktes:

Erster Wächter: Grünling! Bei uns heißt es: Kein Wort mit dem Mund, aber alles mit dem Gummiknüppel. Zweiter Wächter: Habt ihr noch mehr von solchen Bibelsprüchen? (218)

Als geistiger Führer dient ein weiterer Mann aus dem Volk, Klotz. Sein Glaube macht den tyrannischen Gouverneur zum Proselyten. Die Bekehrung zeigt sich als ein Prozess der Bewusstwerdung und der Vermenschlichung des Machthabers. In der achten Szene des ersten Aktes findet der Dialog zwischen Klotz und dem Gouverneur in der Festung statt, wo der Herrscher seine Macht absolut ausübt, aber von der Menschengemeinschaft abgesondert ist. Der Dialog entfaltet sich als ein Zwiegespräch, als ein echtes Zusammentreffen von zwei unterschiedlichen Anschauungen:

Der Gouverneur: Wer ist das? Ich bin ein Mensch, Sie sind ein Mensch. Ist es nicht Übermut zu gehen? Ich bin geboren und geschaffen in diese Welt hinein, in der ich gelebt habe. Wenn ich mit dir gehe, ist das nicht Lüge? Ich befehle Armeen und gewinne Schlachten. Die Sonne geht morgen auf, ich werde Armeen von Menschen befehlen, und Menschen werden von mir sich befehlen lassen! Ändert sich etwas? Die Macht bleibt. Ich weiß zuviel von Menschen. Ich bin allein. Ich bin kein Bruder. Klotz: Nein. Du bist nicht mehr allein. Niemand ist allein. Jeder von uns ist eine riesige, glühende, rote Sonne im Weltraum, sie scheint mild und klein hindurch in ein Krankenzimmer, und da erst weiß man von ihr. Ah, ich fühle es: Die Gewalt ist tot in dir; aber du zitterst noch vor deiner Erkenntnis? O strecke nur zum erstenmal die Hand aus, nicht um zu befehlen, sondern um zu helfen. (219)

(218) Ludwig Rubiner, ibid., S.459.

(219) Ludwig Rubiner, ibid., S.458-459.

Die Veränderung der materiellen Verhältnisse zeigt sich in übernatürlichen Phänomenen. Der menschliche Wille verwandelt sich in die Fähigkeit, die Grenzen des Realen zu überschreiten. In der zweiten Szene des ersten Aktes machen der Mann und die Frau einen Verklärungsprozess durch, ihre Willenskraft wird zu einer lebendigen Kraft, die sie von der Erde reißt und sie unsichtbar macht. Sie gleiten aus der Wirklichkeit in eine Traumsphäre hinüber und können dem Feind entfliehen. Im Zimmer des Hauses, wo sie sich befinden, wendet sich der Mann an die Frau mit den Worten:

Der Mann: Glaube, daß du träumst. Fliege im Schlaf; du rührst nur leise die Füße. Niemand sieht dich. (220)

Rubiner verwendet die Lichtsymbolik als Sinnbild für immaterielle Kräfte im Menschen und für die Erweckung des Geistes. Das Schweben von Körpern versinnbildlicht die aller Schwerkraft entbundenen Menschen, die wie in einem Chagall-Bild in der Luft hängen. (221) Das Interesse für die Lichtmetaphorik und für das Unsichtbare zeigt den Einfluss der Theosophie und die Beschäftigung des Autors mit dem esoterischen Symbolismus und der Mystik, die in seine Studienzeit zurückreicht.

In der dreizehnten Szene des ersten Aktes erfährt die sadistische Tochter des Wächters – Anna - die Läuterung der Seele, die sich folgendermaßen ausdrückt:

Anna: Mir ist so sanft. Wer bin ich? Ich bin ganz allein. Ich schwebe hinauf, ich fliege, ich bin so leicht. Um mich ist nur weißes Licht. Ich will hinaus in das Licht, hinauf. (222)

(220) Ludwig Rubiner, ibid., S.453.

(221) Rubiner und Chagall waren befreundet. Siehe Fußnote n°26 und Jackie Wullschlager, Chagall. A biography, Alfred A. Knopf, New York, 2008, S.154.

(222) Ludwig Rubiner, Die Gewaltlosen, ibid., S.467.

Das Drama hat stark messianische und religiöse Züge: der Führer tritt als Erlöser auf, das Schiff gilt als rettende Arche der Verwandelten, die Wunderheilung des Pestkranken steht symbolisch für die Rettung der ahnungslosen Menschheit. In der zehnten Szene des zweiten Aktes deutet die Genesung des Kranken folglich auf die Reinigung der Erde hin:

Der Gouverneur: O Kraft, wieder ist sie unter uns! Unser Wille trägt uns wie ein Sternenwind zur Freiheit der Menschen! […] Kranker: Was habt ihr nur getan? Ich fühle meine Glieder stark. O Rettung! Soll ich euch dienen? Der Gouverneur: Nein, du dienst uns nicht. Wir werden dir dienen! Spüre, wie die Erde hell wird vor unserer Reinigung! (223)

In der zweiten Szene des zweiten Aktes wird die Schuld des Sünders, des Offiziers, der Annas Kind getötet hat, durch seine Bitte um Vergebung an die Frau vergolten:

Offizier: Ich bin die Schuld. Ich komme aus dem Kasernendunkel. Ich bin Mörder, ich habe gemordet, ich müßte sterben: nun lebe ich neu im Lichtbrand. Ich knie vor dir auf der Erde, ich schlage vor dir auf die Planken nieder, wehrlos, du weißt alles von mir. Leuchte zu mir, ich lebe neu für die Freiheit. (224)

Nauke gilt als die Figur des Verräters. Anspielungen an das eigennützige Interesse verknüpfen ihn mit der Figur des materialistischen Genussmenschen. Er ist der Nachsprecher (225) und wiederholt mechanisch, was er hört und was die anderen ihm sagen, ohne es kritisch zu hinterfragen. Sein Horizont ist beschränkt und er ist nicht so weit, um das Gesamtbild der menschlichen Erweckung zu sehen. Er kann die Friedensmission der Gewaltlosen und den Versuch der Wiedereroberung der Bürger nicht unterscheiden und bringt die zwei Fronten der Auseinandersetzung durcheinander. In der sechsten Szene des dritten Aktes leiert er das Gehörte herunter:

Führer der Bürger: Tu du, was ich dir gesagt habe, dann wirst du ein ganz großer Mann sein! Nauke: Mein Gewissen, mir ist unheimlich. Führer der Bürger: Das ist noch dein altes, dummes, billiges Gewissen. Ich lehre dich doch gerade unser neues, feines, doppeltes Gewissen! Jetzt den Weg zu den Führern. Mit denen werd ich schon fertig. Nauke: Den Weg zu den Führern. Ich bringe dich. Führer der Bürger: Zeig ihn mir, ich finde ihn. Du hast anderes zu tun! Sag du den Revolutionären, was ich dir gesagt habe. Dann werdet ihr alle glücklich! […] Nauke (im Abgehen): Hundertfache Arbeit, lustiges Gesicht in den Fabriken, Getreide hoch, Hunger, Versöhnung, den Anfang machen: das hab ich schnell gemerkt, das war wie auf dem Schiff. Aber dann: Ausliefern, zu den Bürgern übergehen! das kommt hinzu. Das doppelte Gewissen - das ist neu. Und dann kommt das Paradies! (226)

Die kritische Auseinandersetzung mit historischen Positionen bringt den Autor dazu, gegen das Prinzip des Führertums und gegen die Gewalt als Machtmittel zu plädieren. Er hält Führertum und den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung von politischen Ideen für einen Irrglauben, der nicht zur Entwicklung des Geistes führt. In der achten Szene des dritten Aktes beruft sich der Autor auf den Satz Proudhons Eigentum ist Diebstahl, aus seinem Werk Was ist Eigentum? (1840), um das Prinzip des Führertums genauso strikt abzulehnen:

Klotz: Uns opfern. Der Mann: Untergehen? Befreit von der Welt? Klotz: Nein, nicht befreit von der Welt, sondern mit der Last aller Weltkugeln des Himmels auf den Schultern. […] Der Mann: Aber wir sind die Führer. Klotz: Lausche auf die Stimmen, die aus dem Dunkel ans Tageslicht steigen. Höre das Geheimnis der Erde: Es gibt keine Führer. Führertum ist Betrug! (227)

Das freiwillige Selbstopfer der geistigen Führer, die sich absichtlich der Wut des Volkes aussetzen, bezeichnet das Ende der alten Weltordnung als Übergangsritual, damit das Neue geboren werden kann, und den Anfang der Selbstbestimmung des Volkes. Sie erleiden durch die Auflösung ihrer Körper einen symbolischen Tod, damit das Prinzip der Gewaltlosigkeit weiterleben kann. Das Ideal der Gewaltlosigkeit und das der Gemeinschaft sind miteinander verknüpft und „der Opfertod des einzelnen ist Ruf nach kollektivem Führertum auf ethisch hohem Niveau“. (228) Der Begriff der Selbstauflösung, des Opfertodes im christlichen Sinne, bringt Rubiners Verachtung des Autoritätsprinzips am unmittelbarsten zum Ausdruck und zeigt wohin sein Weg führt: zur Masse, die er als Sinnbild von Sittlichkeit sieht.

(223) Ludwig Rubiner, ibid., S.485.

(224) Ludwig Rubiner, ibid., S.476.

(225) Albert Soergel, Curt Hohoff, Dichtung und Dichter der Zeit, ibid., S.154

(226) Ludwig Rubiner, Die Gewaltlosen, ibid., S.497.

(227) Ludwig Rubiner, ibid., S.499.

(228) Christoph Eykman, Zur Sozialphilosophie des Expressionismus, Zeitschrift für deutsche Philologie, 1972, S.497.

Durch den Geist der Liebe bekehrt Anna die Revolutionäre in der belagerten Stadt und lässt, am Schluss, einen Neuanfang für die Menschheit erahnen. Die letzte Szene des Dramas beinhaltet den Dialog zwischen Anna und dem jungen Menschen und ist Anstoß zu einer geistigen Neuorientierung und zur Verwirklichung von künftigen Gemeinschaftsidealen. Die neue Gemeinschaft, deren Bestand sich auf die moralische Stärke der Gewaltlosigkeit gründet, wird - in der Vision von Rubiner – die alte auf materiellen Werten und Macht beruhende Gesellschaft ersetzen. Der junge Mensch weckt die Hoffnung, wieder an Ideale glauben zu können und symbolisiert die Geburt der neuen Welt, die nach dem Untergang der alten entsteht:

Der junge Mensch: Ich bin am Anfang. In dieser Stunde bin ich geboren. Anna: Du hast die Welt um dich. Aber wo bleibt mein Leben? Der junge Mensch: Komm, dein Leben beginnt heute neu. Wir sind Kameraden. Und spür ich auch nie mehr deinen Arm um meinen Hals, wir müssen weiter! Unser Weg geht noch durch viele Länder. (229)

(229) Ludwig Rubiner, Die Gewaltlosen, ibid., S.520.

Der wahre utopische Gehalt des Dramas findet sich im Endziel der gewaltlosen Schar: die Erschaffung einer Gemeinschaft als idealer Ort der Erneuerung des Menschen, in der jeder Verantwortlichkeit für den anderen übernimmt. Im Mittelpunkt stehen die geistige Evolution des Menschen und seine Befreiung aus allen materiellen Beschränkungen. Denn Rubiner geht es um ein universalistisches Bild, das die Ethik als Vorbild aller politischen und sozialen Ordnung begreifen lässt. Mit der christlichen Botschaft der Gewaltlosigkeit stellt Rubiner dem Klassenkampf eine demokratische Alternative entgegen. Die phantastische Szenerie des Dramas dient dazu, eine antimaterialistische und mystische Weltvorstellung gegen eine auf ihren Materialwert reduzierte Gesellschaft zu schaffen; die emotionale Sprache ist gekennzeichnet durch Pathos, um die Seele des Menschen zu erforschen und die Emphase auf die kosmische Weltverbrüderung zu lenken.

Die mystische Symbolik und der utopische Gehalt von Schlagwörtern der Sozialismus-Ideologie kennzeichnen das Theater als Ort der Repräsentation des Geistes. Mit seiner Auffassung des Theaters knüpft Rubiner an die These an, die Walter Hasenclever 1916 in Das Theater von morgen vertritt. Eine Besprechung des Aufsatzes Hasenclevers erscheint 1917 in seinem Zeit-Echo unter dem Titel Bühne des Geistigen. Hier liest man: Die Schaubühne eine politische Anstalt! (230) Diese Aussage Rubiners ist nicht so sehr politisch zu verstehen als vielmehr ethisch. Das Theater als Kommunikationsmittel soll ethische Expression sein und den Zuschauer führen; die szenische Darstellung steht zur Vermittlung ideeller Gehalte, sie muss wirken, einen praktischen Effekt haben. Mit seinem Drama will Rubiner den Zuschauer nicht unterhalten, sondern ihn zum Zeugen einer inneren und sozialen Wandlung werden lassen.

Rubiner setzt sich für eine Theaterform ein, die sich auf die Grundsätze des Bundes für proletarische Kultur beruft, der mit seinen theatralischen Experimenten auf gesellschaftliche Veränderung abzielte. Der vom Proletkult inspirierte Bund – dem auch er angehörte – bemühte sich, ein proletarisches Theater zu schaffen. Von diesem Punkt aus lässt sich die intellektuelle Verarbeitung des Sozialismus und die Ausgestaltung der Debatte über die Förderung der Massenkultur verfolgen. Dabei spielt die Kunst im Dienst der Gemeinschaft eine zentrale Rolle. 1919 veröffentlicht Rubiner in der Zeitschrift Freie Deutsche Bühne den Aufsatz Die kulturelle Stellung des Schauspielers, der 1920 in zweiter Auflage in der Zeitschrift Der Gegner erscheint. Der Aufsatz thematisiert die Rolle des Schauspielers, der die Ideen der Menschheit verkörpert und der sich mit dem Lebenswillen der Gemeinschaft ganz besonders stark identifiziert. (231) Der Schauspieler hat eine neue Kulturaufgabe zu erfüllen, die nicht mehr mit der Vermittlung formaler und ästhetischer Inhalte zu tun hat. Ihm wird eine herausgehobene Bedeutung zugesprochen als Sprecher der neuen Menschheitskultur. (232)

(230) Ludwig Rubiner, Bühne des Geistigen, Zeit-Echo, 1917, Maiheft, S.23.

(231) Ludwig Rubiner, Die kulturelle Stellung des Schauspielers, Der Gegner, 1920, S.157-158.

(232) Ludwig Rubiner, ibid., S.156.